Was tun, wenn Trump gewinnt und das „Projekt Ukraine“ den Europäern überlässt?
Frieden hat moralische Priorität, Friedensverhandlungen sind die einzig rationale Entscheidung
Donald Trump hat gewohnt großspurig angekündigt im Falle seines Wahlsieges am 5. November den Ukraine-Krieg innerhalb von 24 Stunden oder jedenfalls noch vor seinem Amtsantritt als neuer Präsident am 20. Januar 2025 beenden zu können. Gut möglich, dass ihm dies nicht gelingt, er das Interesse an der für die USA sicherheitspolitisch zweitrangigen Ukraine verliert und das „Projekt Ukraine“1 in die Hände der Europäer legt, für die es sicherheitspolitisch offensichtlich wesentlich relevanter ist. Die Europäer (gemeint sind im Wesentlichen die EU-Staaten plus Großbritannien abzüglich Ungarn und Slowakei), die bisher als treue Vasallen einer von der Biden-Administration vorgegebenen Strategie gefolgt sind, müssen dann unverhofft selbst und unter erhöhtem eigenen Risiko Entscheidungen treffen. Mit einem realistischen Blick auf die verfügbaren Alternativen und ihre wahrscheinlichen Konsequenzen ist die Entscheidung eigentlich ganz einfach. Der teilweise fanatische Moralismus und die Dummheit bis an die Grenze zur Schuldunfähigkeit maßgeblicher europäischer Politiker seit Beginn des Ukraine-Krieges, gibt allerdings wenig Anlass zu der Hoffnung, dass es den Europäern gelingt eine weise Entscheidung zu treffen.
Alternative 1: „All-in“ – Mehr Waffen, Flugverbotszone, eigene Soldaten
Die Biden-Administration war weder gewillt den russischen Angriff auf die Ukraine zu verhindern, noch diesen Krieg schnell zu beenden, indem sie ein Ende der NATO-Osterweiterung und damit eine dauerhafte Neutralität der Ukraine zusagt. Sie war aber bemüht eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland und damit eine schwer kontrollierbare Eskalation bis hin zu einem 3. Weltkrieg (Originalton Biden) zu vermeiden und ist daher den Forderungen Selenskis, zuletzt zusammengefasst in seinem „Siegesplan“, nur zögerlich und teilweise überhaupt nicht nachgekommen. Aus Sicht des EU-Parlaments, der designierten EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas, Großbritanniens, der baltischen Staaten oder Polens waren die USA oft zu zurückhaltend. Auch in Deutschland forderten prominente Politiker wie Merz und Kiesewetter in der Union, Strack-Zimmermann und Faber in der FDP oder Hofreiter bei den Grünen eine konsequentere Unterstützung der Ukraine. Befreit von der US-Dominanz könnten diese Stimmen nun durchsetzen noch mehr Marschflugkörper inklusive Taurus zu liefern und der Ukraine zu gestatten diese auch gegen Ziele tief in Russland einzusetzen. Sie könnten auf Kriegswirtschaft umstellen, versuchen eine Flugverbotszone zumindest über Teilen der Ukraine zu implementieren und schließlich auch mit eigenen Soldaten in ukrainischen Uniformen in den Krieg eingreifen.
Was wären die Konsequenzen? Vielleicht reicht das alles nicht, Russland verfügt über die Fähigkeit seinerseits zu eskalieren, die ukrainischen und europäischen Truppen zurückzudrängen und ein Ende des Krieges zu seinen Bedingungen zu erzwingen. Dann hat das Engagement der Europäer den Krieg und das damit verbundene Elend nur sinnlos verlängert. Möglicherweise reichen die vereinten Kräfte der Europäer aber auch aus, um in einer neuen Gegenoffensive die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Russland stünde dann vor der Alternative, sich geschlagen in sein Schicksal zu ergeben, was vielleicht in einen Machtwechsel in Moskau mündet oder aber seine letzte Waffe einzusetzen und nuklear zu eskalieren, sei es in der Ukraine oder als Ernüchterungsschlag gegen deren europäische Unterstützer. Da Russland den Krieg als existenziell begreift, wird es eher zu Nuklearwaffen greifen, als eine totale Niederlage hinzunehmen. Ein Ernüchterungsschlag z. B. gegen Polen oder Deutschland ist für Russland erfolgversprechender und weniger riskant, wenn es mit einer Trump-Administration konfrontiert ist, die sich aus dem „Projekt Ukraine“ zurückgezogen hat und für dieses Projekt kaum eine nukleare Eskalation riskieren wird, die auch das eigene Territorium betreffen kann.
Die All-in-Strategie führt also entweder zu dem sprichwörtlichen Krieg bis zur letzten Ukrainerin und einer Verzögerung eines Kriegsendes zu russischen Bedingungen oder zu einer nuklearen Eskalation.
Alternative 2: Fortsetzung der „Boiling the Frog“–Strategie ohne die USA
Statt den Einsatz zu verdoppeln könnten die Europäer die bisherige „Boiling the frog“-Strategie beibehalten und versuchen, das ausbleibende Engagement der USA so weit wie möglich zu ersetzen, aber darauf verzichten, die Ukraine mit zusätzlichen Möglichkeiten auszustatten oder direkt mit eigenen Kräften in den Krieg einzugreifen.
Mit mehr vom Gleichen wird sich der gegenwärtige Trend wahrscheinlich fortsetzen. Russland rückt langsam weiter vor, die ukrainischen und russischen Soldatenfriedhöfe schwellen an, irgendwann kollabiert der ukrainische Widerstand und der Krieg endet zu russischen Bedingungen. Weniger wahrscheinlich, aber denkbar ist auch, dass es der Ukraine gelingt, irgendwann die Front zu stabilisieren und den Abnutzungskrieg in der vorteilhaften Defensive über längere Zeit durchzuhalten. Im günstigeren Fall mündet das bei hinreichender Ermüdung der Kriegsparteien irgendwann in einen Waffenstillstand und einen eingefrorenen Konflikt, der Europa einen neuen Kalten Krieg beschert, mit einem Eisernen Vorhang weiter östlich. Einen Kalten Krieg, der jederzeit wieder aufflackern kann, was für Europa eine schwerwiegende langfristige Belastung darstellt. Im schlimmsten Fall erkennt Russland irgendwann, den Krieg konventionell nicht gewinnen zu können und eskaliert nuklear, um das Ausbluten der eigenen Streitkräfte zu stoppen und den Krieg doch noch siegreich zu beenden.2
Alternative 3: Friedensverhandlungen mit weitreichenden Konzessionen
Wenn sich die USA aus dem „Projekt Ukraine“ zurückziehen haben es die Europäer in der Hand die ukrainische Regierung zu Friedensverhandlungen zu zwingen, indem sie drohen, andernfalls ihre militärische und finanzielle Unterstützung einzustellen. Die Ukraine wäre unter diesen Umständen nicht mehr in der Lage, ihr Territorium zu verteidigen. Sie könnte allenfalls versuchen, zu einem Guerillakrieg überzugehen.
Angesichts des russischen Vormarsches auf dem Schlachtfeld und eines Rückzugs der USA wären die Ukraine und die Europäer bei Friedensverhandlungen in einer schlechten Position. Sie kämen wohl nicht umhin, die von Präsident Putin im Juni 2024 genannten Bedingungen für Friedensverhandlungen zu akzeptieren. Das heißt, die Ukraine müsste sich aus den von Russland offiziell annektierten Oblasten Donezk, Lugansk, Cherson und Saporischschja zurückziehen, ihre Pläne für einen NATO-Beitritt aufgeben, den Verzicht auf Nuklearwaffen erklären, Beschränkungen der militärischen Macht akzeptieren und den Schutz der Interessen der verbleibenden russischsprachigen Bevölkerung des Landes garantieren. Putin hat erklärt, dass es unter diesen Voraussetzungen buchstäblich im selben Moment einen Waffenstillstand geben werde. Mit dem Waffenstillstand endet das sinnlose Sterben und die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur.
Wenn in Verhandlungen vereinbart würde, dass die Annexion der genannten vier Oblaste und der Krim akzeptiert wird und Russland die Souveränität der Ukraine über das verbleibende Territorium anerkennt, dann hätte Kiew etwa drei Viertel seines Territoriums von 1991 erfolgreich verteidigt. Der für eine wirtschaftlich prosperierende Ukraine wichtige Zugang zum Schwarzen Meer mit der Hafenstadt Odessa bliebe der Ukraine erhalten. Bei einer Fortsetzung des Krieges wäre der Verlust von Odessa zu befürchten.
Verloren wären Regionen, die durch Launen der Geschichte 1991 Teil der Ukraine geworden sind. Gebiete, in denen mehrheitlich Russisch gesprochen wird und die zu einem erheblichen Teil von ethnischen Russen bewohnt werden. Eine Bevölkerung, die in Wahlen und Meinungsumfragen bis 2014 überwiegend eine Hinwendung zu Russland und eine Ablehnung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gezeigt hat. Eine Bevölkerung, von der Patrick Baab, der kürzlich den Donbass besucht hat, berichtet, dass sie das ukrainische Regime ablehne und sich von Russland befreit fühle. Auch wenn dies nur anekdotische Evidenz ist, die wahrscheinlich nicht für alle von Russland beanspruchten Gebiete zutrifft, so ist es wohl auch nicht die Meinung einer kleinen Minderheit.
Die immer noch große und dünn besiedelte Ukraine könnte zwar kein NATO-Mitglied werden, aber eine EU-Mitgliedschaft wurde von Russland bisher nicht kategorisch abgelehnt. Die EU und Russland haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Ukraine nicht zu einem unruhigen „failed state“ wird. Aus diesem Interesse heraus würde sich die EU bei dem Wiederaufbau der Rest-Ukraine massiv engagieren. Russland könnte die Akzeptanz einer EU-Mitgliedschaft oder einer engen Anbindung an die EU erleichtert werden, indem die im Westen eingefrorenen Vermögenswerte sukzessive freigegeben werden, verbunden mit der Verpflichtung, diese für den Wiederaufbau der annektierten Gebiete zu verwenden.
Frieden hat moralische Priorität
Eine nüchterne und realistische Analyse der verfügbaren Alternativen für den Fortgang des Ukraine-Krieges lässt nur den Schluss zu, dass die Europäer schnellstmöglich auf Friedensverhandlungen mit Russland drängen sollten, auch um den Preis von Zugeständnissen an Russland, die für gemeinhin als unannehmbar dargestellt werden. Diejenigen, die im Namen von Gerechtigkeit und Menschenrechten für eine Fortsetzung der Waffenlieferungen plädieren und meinen, mit Putin könne man nicht verhandeln, haben, anders als sie glauben, die Moral nicht auf ihrer Seite. Ihre Strategie hat zu hunderttausenden Toten beigetragen und die Verhandlungsposition der Ukraine verschlechtert.
Der Frieden hat die moralische Priorität, denn die Ausgebombten, die Verbrannten, die Erschossenen Ukrainer und Russen haben keine Menschenrechte mehr. Frieden dient der Gerechtigkeit, während das Streben nach unbedingter Gerechtigkeit den Frieden verhindert und das Sterben verlängert.3 Die Europäer sollten sich generell von Regime Change oder Krieg zum Zwecke der Demokratisierung, Kriegen zur Ausrottung des Bösen auf Erden etc. verabschieden. Sie sollten aufhören, sich für einen „moralischen Imperialismus“ zu begeistern. Denn: „Es kommt nicht so sehr darauf an die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen.“4
Unter „Projekt Ukraine“ wird das Ziel des Westens, insbesondere der USA verstanden, die Ukraine in das westliche Lager zu ziehen.
Dieses Szenario ist natürlich auch bei Alternative 1 „All-in“ möglich.
Vgl. Sommer, Theo: Diese NATO hat ausgedient
Odo Marquardt
Fortsetzung: die Ukraine ins westliche Lager zu ziehen.
2) Die Laune der Geschichte im Fall Krim: Chruschtschow hat die Krim 1954 der Ukraine zur 300 Jahr Feier der Zusammengehörigkeit geschenkt. Er war selbst mehr oder weniger Ukrainer.
3) Es ist natürlich das Recht der Ukrainer sich zu verteidigen, aber die Europäer sollten sich nicht in einen Krieg mit Russland hineinziehen lassen. Putin darf, kann und (sehr wahrscheinlich) will nicht alle ehem. Sowjetrepubliken zurückerobern.
Vielleicht darf ich den noch empfehlen: https://selken.substack.com/p/deutsche-politiker-ohne-interesse
Puuh, harter Stoff. Ich hätte 3 kleinere Fragen dazu die ich teilweise fast nicht glauben kann:
Europäer sollten sich von Krieg als Zweck der demokratisierung verabschieden? Ist nicht Russland in die Ukraine einmarschiert?
Dann die Laune der Gesichte von 1991? Es geht nicht um die Unabhängigkeit der Ukraine? Kann Putin dann alle ehemaligen Sowjetischen Gebiete zurückerobern?
Und was ist eigentlich mit dem Willen der Ukrainer die zu einem großen Teil ihre Unabhängigkeit verteidigen möchten? Zur Not halt auch mit der Waffe?