Russland debattiert nuklearen Erstschlag auf europäische NATO-Staaten
Durch Prigoschins Putschversuch gegen Putins Regime steigt das Risiko, aber in Deutschland interessiert das niemanden.
Am 13. Juni publizierte Sergei A. Karaganov einen Diskussionsbeitrag in “Russia in Global Affairs” mit dem Titel „A Difficult but Necessary Decision“, in dem er sich für einen nuklearen Präventivschlag auf europäische NATO-Staaten ausspricht. Karaganov ist nicht irgendein Verrückter. Er leitet den Rat für Außen- und Verteidigungspolitik, war Mitarbeiter von Außenminister Primakov, Berater der Präsidenten Jelzin und Putin und soll sowohl Putin als auch Außenminister Lawrow nahestehen. In Reaktion auf Karaganov publizierte der auch im Westen bekannte Dimitri Trenin einen Beitrag („Conflict in Ukraine and Nuclear Weapons“) in dem er Karaganov weitgehend zustimmt. Widerspruch äußerte der weniger bekannte Ivan Timofeev („A Preemptive Nuclear Strike? No!“).
Die Argumentation von Karaganov klingt erschreckend rational, wenn man aus Perspektive der russischen Elite auf den Krieg in der Ukraine und den Konflikt mit dem Westen blickt. Aus der Perspektive Russlands auf die Dinge zu schauen, bedeutet nicht, diese Sicht gutzuheißen. Es könnte aber Voraussetzung für eine rationale Politik in Deutschland sein, deren oberstes Ziel es sein muss, eine nukleare Eskalation zu verhindern.
In deutschen Medien wird generell über die russische Perspektive auf den Krieg wenig differenziert berichtet. Der Krieg wird zumindest im Mainstream weitgehend als eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Gandalf und den Orks präsentiert und welchen Sinn hat es schon die Perspektive von Orks zu analysieren. Zudem könnten derartige Berichte die deutsche Öffentlichkeit beunruhigen und zu „Kriegsmüdigkeit“ führen. Da hier aber offensichtlich höchst vitale deutsche Interessen berührt sind sollte sich das ändern, bevor es zu spät ist.
Karaganov sieht, wie mit ihm wohl ein großer Teil der russischen Eliten, den Krieg in der Ukraine als eine Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen, also insbesondere den USA und der NATO. Die Ukraine ist in diesem Konflikt nicht der eigentliche Gegner, sondern ein gegen Russland gerichtetes Instrument des Westens. Karaganov bedauert, dass Russland nicht schon früher und damit vielleicht erfolgreicher zu einem präemptiven Schlag gegen die Ukraine ausgeholt hat.
Der Konflikt mit dem Westen ist für den Politikwissenschaftler auch ein Kulturkampf. Karaganov wirft den westlichen Eliten vor, eine inhumane Ideologie zu propagieren, die sich gegen traditionelle Familie, Heimat, Geschichte und Religion wende, um den natürlichen Widerstand der Menschen gegen den globalistischen Kapitalismus zu brechen.
Die lange Friedensperiode im Westen habe die Menschen den Horror des Krieges vergessen lassen und den Willen zur Selbstbehauptung geschwächt. Die Existenz von Atomwaffen hat nach Einschätzung von Karaganov zu der langen Periode relativen Friedens wesentlich beigetragen. Die Angst vor ihrem Einsatz scheine aber weitgehend verschwunden zu sein. Anders sei nicht zu erklären, dass der Westen einen Krieg in der unmittelbaren Interessensphäre einer nuklearen Supermacht entfesselt habe.1 Karaganov fordert: „Die Angst muss wiederbelebt werden, andernfalls ist die Menschheit zum Untergang verurteilt!“ Auf den Schlachtfeldern in der Ukraine gehe es nicht nur um die Zukunft Russlands oder der Welt, sondern darum, ob es eine solche Zukunft überhaupt gebe oder der Planet zu einer radioaktiven Ruine werde. Indem Russland den Willen des Westens zur Aggression breche und den Westen dazu zwinge sein Streben nach Hegemonie aufzugeben, könne es die Welt vor einer globalen Katastrophe bewahren.
Karaganov sieht Russland vor schwierige Alternativen gestellt. Russland könne den Krieg noch Jahre fortführen, Tausende und Abertausende Menschen opfern. Es dürfe den Krieg aber nicht beenden, ohne einen klaren strategischen Sieg über den Westen. Im Ergebnis müsse der Westen gezwungen werden, sein Streben nach globaler Dominanz aufzugeben, und zu begreifen, dass er mit einer fortgesetzten Aufrüstung der Ukraine gegen seine eigenen Interessen handele.
Um dies zu erreichen, schlägt Karaganov vor dem Feind, also dem Westen, mit einer neuen russischen Nukleardoktrin unmissverständlich vor Augen zu führen, dass Russland bereit sei zu einem nuklearen Präventivschlag als Vergeltung für die aggressiven Akte der Vergangenheit und der Gegenwart. Im Westen könne so vielleicht der Instinkt zur Selbstbehauptung wiederbelebt werden. Letztlich mit dem Ziel einen globalen nuklearen Schlagabtausch und damit die Auslöschung der Menschheit zu verhindern.
Wenn die explizite Drohung mit einer neuen Nukleardoktrin nicht ausreiche, um den Westen dazu zu bewegen den Rückzug anzutreten, dann müssten einige Ziele in europäischen Ländern nuklear angegriffen werden, um den Westen zur Vernunft zu bringen. Das Risiko eines nuklearen Vergeltungsschlags oder überhaupt eines Vergeltungsschlags gegen russisches Territorium hält Karaganov für minimal. Nur ein völlig Verrückter, sein eignes Land hassender amerikanischer Präsident würde zur Vergeltung eines russischen Nuklearangriffs auf Europa einen nuklearen Angriff auf sein eigens Land riskieren, also zum Beispiel Boston opfern, um die Vernichtung von Posen zu vergelten.
In Deutschland wurden Putins mehr oder weniger verklausulierte Drohungen mit Russlands Atomwaffenarsenal von den Damen und Herren die hierzulande als Sicherheits- oder Militärexperten bezeichnet werden bislang regelmäßig als Bluff abgetan. Der Lieblingsexperte der Talkshows, Carlo Masala, sagte bei Illner die intendierte Abschreckungswirkung, die von Putins Nuklear-Drohungen ausgehe, sei "verpufft". Der Westen habe sich "sehr klug verhalten" und sei auf die Warnungen gar nicht eingegangen. Militärexperte Sönke Neitzel verstieg sich bei „Hart aber Fair“ sogar infantil grinsend zu der Aussage, der Bundeskanzler habe ständig von Atomkrieg „gefaselt“ und damit schnellere Waffenlieferungen verhindert.
Ernster zu nehmende Experten wie John Mearsheimer oder Graham Allison halten einen russischen Atomwaffeneinsatz im Falle einer drohenden Niederlage für möglich respektive gar wahrscheinlich. Mearsheimer rechnet damit, dass die USA auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen durch Russland nicht mit einem konventionellen oder atomaren Gegenschlag reagieren, sondern alles daransetzen werde, die Eskalationsspirale zu durchbrechen und den Krieg zu beenden, um nicht selbst zum Ziel zu werden. Er teilt also in dieser Hinsicht die Einschätzung von Karaganov.
Ein westlicher Autor, Lasha Tchantouridze, hat schon im September 2022 in „The National Interest“ die Vermutung geäußert, dass ein in die Enge getriebenes Russland eher einen europäischen NATO-Staat in hinreichender Entfernung von Russland mit Nuklearwaffen angreifen würde als die Ukraine selbst. Russland könnte, so Tchantouridze, einen Atomsprengkopf in großer Höhe über Europa in mehreren 10km Höhe explodieren lassen. Die Auswirkung auf das Leben auf der Erde durch die Primärstrahlung oder die Druckwelle wäre in diesem Fall recht gering. Als Hauptwirkung kommt es zu einem nuklearen elektromagnetischen Impuls. Das Stromnetz und damit auch Kommunikationssysteme, Krankenhäuser, Banken etc. würden schlagartig zusammenbrechen. Alternativ könnte Russland mit Hilfe einer Drohne einen Atomsprengkopf in einer dünn besiedelten Region zur Explosion bringen und die eigene Verantwortung abstreiten oder von einem Fehler sprechen. Auch Tchantouridze vermutet, dass die USA nicht nuklear zurückschlagen und so die Zerstörung der eigenen Großstädte riskieren würden.
Frankreich und Großbritannien sind aufgrund ihrer eigenen Atomwaffenarsenale unwahrscheinliche Ziele für einen wie auch immer gearteten russischen Erstschlag. Polen oder Deutschland eignen sich besser. Das Risiko dürfte durch Prigoschins Putschversuch gegen Putins Regime größer geworden sein, weil ein wankendes Regime eher zu verzweifelten Maßnahmen greift. Klar ist jedenfalls, dass die vom Westen unter Führung der USA verfolgte, kompromisslose „Krieg bis zum Sieg“-Strategie ein riskantes Unterfangen ist und das Deutschland dabei ein wesentlich höheres Risiko eingeht als die USA. Im Übrigen hat sich in den letzten Jahrzehnten in Afghanistan, Irak, Syrien etc. zur Genüge gezeigt, dass es nicht unbedingt ein Erfolgsrezept ist, blind der US-Strategie zu folgen. Es gibt also gute Gründe zur Beendigung des Ukraine-Krieges weniger auf Waffenlieferungen und mehr auf Diplomatie und Kompromiss zu setzen. Der Westen sollte sich den Rat von John F. Kennedy in Erinnerung rufen: “Above all, while defending our own vital interests, nuclear powers must avert those confrontations which bring an adversary to a choice of either a humiliating retreat or a nuclear war. To adopt that kind of course in the nuclear age would be evidence only of the bankruptcy of our policy — or of a collective death-wish for the world.”2
In westlicher Perspektive ist es natürlich Russland, das einen Krieg gegen die Ukraine mit der Invasion am 24.02.2022 begonnen hat. Karaganov sieht dagegen die NATO-Osterweiterung im Allgemeinen und das Streben der NATO in die Ukraine als Aggression. Er bezeichnet an anderer Stelle in einem Interview mit der BBC die NATO als ein Krebsgeschwür.
John F. Kennedy: “Strategy of peace” 1963