Verzweifelte Stimme der Vernunft zum Ukraine-Krieg
Jeffrey Sachs fürchtet Eskalationsspirale, hält Verhandlungen mit Putin für möglich, zweifelt aber an Bereitschaft der USA
Bloomberg erschreckt: Sachs wagt es USA hinter Nordstream-Sabotage zu vermuten
Der international renommierte amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs hat jüngst mit einem live geführten Bloomberg-Interview[1] für Aufsehen gesorgt. Zum erkennbaren Entsetzen der Interviewer zeigte er sich überzeugt, dass die Sabotage der Nordstream-Pipelines eine Aktion der USA, eventuell in Zusammenarbeit mit Polen gewesen sei. Das widerspricht, wie Sachs selbst betont, dem herrschenden Narrativ in den USA und ebenso in Deutschland, wonach alles dafürspricht, dass es Russland gewesen sein muss.
Richtig ist, dass es für eine Täterschaft Russlands und die Unschuld der USA nur ein quasi axiomatisches Argument gibt: Die USA gehören zu den Guten und Russland ist das Reich des Bösen. Indizien und mögliche Motive sprechen dagegen ziemlich eindeutig für eine Täterschaft der USA. Sowohl Präsident Biden als auch die notorische US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland[2] haben öffentlich angekündigt, dass man Nordstream II auf die eine oder andere Weise ein Ende setzen werde, wenn Russland in der Ukraine einmarschiere.[3] Außenminister Blinken hat nach dem Sabotageakt die sich hieraus ergebenden Chancen begrüßt.[4] Er muss die Chancen für die LNG-Produzenten in den USA gemeint haben, die mit exorbitanten Kosten für Deutschlands Gasversorgung korrespondieren. Ein noch wichtigeres mögliches Motiv besteht darin mit einer Zerstörung der Pipelines das Risiko zu eliminieren, dass die Europäer in einer Energiemangellage im Winter ihre Unterstützung der Ukraine zurückfahren, wenn Putin ihnen im Gegenzug wieder Gas liefert. Russland dagegen hat für die Zerstörung der eigenen, für viel Geld verlegten Pipelines, offensichtlich keinerlei Motiv. Im Gegenteil: Stilllegen kann Russland die Pipelines, ohne sie zu zerstören. Mit der Zerstörung der Pipelines entfällt die Möglichkeit mit Gaslieferungen Devisen zu erlösen und, wichtiger noch, Zugeständnisse zu erpressen. Auch die Tatsache, dass bislang keine Hinweise auf mögliche Täter bekannt wurden, spricht dafür, dass die USA ihre Drohung in die Tat umgesetzt haben. Gäbe es Hinweise auf Russland wären sie sicher bekannt geworden. Belege für eine Täterschaft der USA dürfte dagegen, mit Blick auf das Schicksal von Julian Assange, kaum jemand zu veröffentlichen wagen.
Ukraine-Krieg auf gefährlichem Eskalationspfad
Ein weniger Aufsehen erregendes, aber nicht minder aufschlussreiches, und dem herrschenden Narrativ diametral widersprechendes Interview, hat Jeffrey Sachs dem Youtube-Kanal „Brooklyn for Peace“ gegeben.[5] Es ist als Kontext wichtig zu wissen, dass Sachs nicht irgendein amerikanischer Top-Ökonom ist. Sachs kennt sich in Osteuropa blendend aus. Er hatte ab 1989 zahlreiche Beraterfunktionen in Polen, Russland und der Ukraine inne. Sachs hat in der Sowjetunion bzw. in Russland Gorbatschow und Jelzin beraten. In der Ukraine war er Berater des ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Leonid Kutschma, und des ersten Ministerpräsidenten nach der Maidan-Revolution, Arsenij Jatzenjuk.
Sachs sieht die Welt im Ukraine-Krieg gegenwärtig auf einem gefährlichen Eskalationspfad. Er betrachtet den Krieg als eine Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA. Es kämpfen und sterben zwar Ukrainer, aber es sind die USA, die im Hintergrund den Krieg für die Ukraine organisieren und finanzieren, so Sachs. Das Ziel der USA scheine darin zu bestehen, dass Russland sich irgendwann geschlagen aus der Ukraine zurückziehe, wie einst die USA aus Vietnam und Afghanistan. Sachs hält diese Erwartung jedoch für unrealistisch, da die Ukraine für Russland eine andere Bedeutung habe als Vietnam oder Afghanistan für die USA. Die Ukraine befinde sich in unmittelbarer Nähe Russlands. Was dort vor sich gehe betreffe daher aus russischer Perspektive unmittelbar die russischen Sicherheitsinteressen. Diese Perspektive mag zutreffend sein oder auch nicht, es sei aber auf jeden Fall die russische Sicht auf die Dinge. Eine Niederlage ist aus diesem Grund für Russland im Ukraine-Krieg keine Option, so Sachs. Wenn nun aber die Strategie der USA darin bestehe den Krieg so lange fortzuführen, bis die Russen besiegt sind, während eine Niederlage für die Russen unter keinen Umständen akzeptabel ist, dann könne das nur dazu führen, dass der Krieg immer weiter eskaliere. Selbst wenn es gelingen sollte Russland in der Ukraine konventionell zu schlagen, dann verfüge Russland immer noch, als letztes Mittel, über 6000 Atomsprengköpfe. Sachs, der ein Buch über die Kubakrise geschrieben hat, zeigt sich erschreckt darüber, dass inzwischen über den Einsatz von Atomwaffen so selbstverständlich gesprochen werde, wie über den Ausgang der Super Bowl.
Putin hat seit Kriegsbeginn wiederholt und mehr oder weniger verklausuliert auf das russische Atomwaffenarsenal hingewiesen. Das hat sehr wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sich die NATO nicht direkt mit eigenen Truppen oder durch eine Flugverbotszone in der Ukraine eingemischt hat, sondern sich mit Waffenlieferungen, Aufklärung und Ausbildung von ukrainischen Soldaten begnügt. Eine schleichende Eskalation der Lage hat das aber nicht verhindert. Auf die von westlichen Waffenlieferungen ermöglichte erfolgreiche Gegenoffensive reagierte Russland mit einer Teilmobilmachung. Der Angriff auf die Kertsch-Brücke zur Krim beantwortete Russland mit Raketenangriffen auf Infrastruktureinrichtungen in der gesamten Ukraine. Und auf die jüngsten nuklearen Drohungen aus Moskau reagierte der Westen nicht etwa mit einem Versuch die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Der EU Außenbeauftragte Borrell drohte vielmehr als Reaktion mit der Vernichtung der russischen Armee: "Jeder nukleare Angriff auf die Ukraine wird eine Antwort hervorrufen. Zwar keine nukleare Antwort, aber eine so starke militärische Antwort, dass die russische Armee vernichtet wird"[6]. Wie Russland darauf reagieren wird, hat Borrell nicht weiter ausgeführt. Vielleicht meint er, es kommt wie bei der Super Bowl oder einem Fußball-Finale. Der Gewinner, also in diesem Fall die NATO, wird gefeiert und der Verlierer und sein Anführer, also Russland und Putin, räumen ihre Niederlage ein und schleichen mit hängenden Köpfen davon. Plausibel erscheint diese Vorstellung allerdings nicht. „Der Klügere gibt nach“, lehren Erzieher ihre Schützlinge unter bestimmten Umständen im Kindergarten. Der Westen nimmt für sich sicher in Anspruch im Vergleich mit Russland der „Klügere“ zu sein. Es wäre an der Zeit dies zu belegen, indem ein ernsthafter Versuch unternommen wird aus der Eskalationsspirale auszubrechen.
Wie ist es überhaupt zum Ukraine-Krieg gekommen?
Sachs glaubt nicht an das dominierende Narrativ, wonach Putin, dem Vorbild von Peter dem Großen folgend, beabsichtige das russische Imperium neu zu errichten. Er sieht vielmehr auch die USA und die NATO in der Verantwortung, die sich nicht aus den Angelegenheiten im Hinterhof anderer Mächte heraushalten könnten. Als tiefe Ursache des Krieges betrachtet Sachs die NATO-Osterweiterung. Er betont, dass Putins Behauptung, wonach Gorbatschow zugesagt wurde, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, korrekt sei. Spätestens die von Präsident George W. Bush im Jahr 2008 der Ukraine und Georgien in Aussicht gestellte NATO-Mitgliedschaft habe zentrale Sicherheitsinteressen Russlands verletzt, so Sachs. Auch bei der Maidan-Revolution im Jahr 2014 haben die USA laut Sachs eine zentrale Rolle gespielt.
Es ist weitgehend unbestritten, dass die USA eine gewisse Rolle bei der Maidan-Revolution gespielt haben, bei der der demokratisch gewählte, aber korrupte und Russland nahestehende Präsident Janukowitsch aus dem Amt gejagt wurde. Ob es eine ausschlaggebende Rolle war, sei dahingestellt. Es stellt sich aber in jedem Fall die Frage, warum sich die USA seit vielen Jahren so stark in der Ukraine engagieren. Eigene Sicherheitsinteressen der USA sind in der Ukraine kaum betroffen. Ohne das Engagement der USA handelte es sich aber letztlich um einen regionalen Konflikt. Einen Konflikt mit schlechten Aussichten für die Ukraine als militärischer Sieger vom Platz zu gehen. Aber auch einen Konflikt, der vielleicht nie zum Krieg geworden und sicher nicht mit dem Risiko verbunden wäre zu einem nuklearen Armageddon zu eskalieren. Die Europäer würden sich ohne Rückendeckung aus den USA wohl kaum mit mehr als starken, verurteilenden Worten Richtung Russland und humanitärer Hilfe für die Ukraine einmischen.
Was geschah im unmittelbaren Vorfeld der russischen Invasion?
Sachs erläutert, dass Putin Ende des Jahres 2021 eine Reihe von Forderungen an das Weiße Haus gerichtet hat, die darauf abzielten, die Sicherheitsinteressen Russlands zu gewährleisten. Putin habe klar gemacht, dass Russland die NATO nicht an seinen Grenzen wolle und verlangt, dass auf jede weitere Osterweiterung verzichtet werde. Sachs berichtet darüber, dass er seinerzeit im Weißen Haus angerufen habe, um zu Verhandlungen aufzufordern. Es habe hierzu jedoch seitens der USA keinerlei Bereitschaft gegeben. Vielmehr wurde seitens des Weißen Hauses betont, dass die NATO eine Politik der offenen Tür verfolge, die man nicht aufgeben könne. Sachs hielt dem entgegen, dass es sich bei der NATO-Mitgliedschaft nicht um ein unabdingbares Recht handeln könne, wenn hierdurch Sicherheitsinteressen von Nachbarn berührt würden. Er argumentierte, dass die USA umgekehrt den Beitritt von Mexiko zu einem Militärbündnis mit China sicher nicht hinnehmen würden, stieß mit diesen Argumenten im Weißen Haus aber auf taube Ohren.
US-Außenminister Blinken hat auch öffentlich im Januar 2022 gesagt, dass die Politik der offenen Tür bestehen bleibe, und die Ukraine das Recht habe, souverän über die Mitgliedschaft in Militärbündnissen zu entscheiden.[7] Irritierend bleibt dabei, warum das Prinzip der offenen Tür für die NATO so wichtig sein soll, dass man es selbst zum Zwecke der Verhinderung eines Krieges nicht zur Disposition stellen kann. Erklärungsbedürftig wäre auch, warum Russland kein Mitsprachrecht bei einer evtl. NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eingeräumt wird, obwohl die USA laut der unverändert gültigen Monroe-Doktrin in einem umgekehrten Fall, in der Nähe ihrer eigenen Staatsgrenze, dies mit Sicherheit für sich in Anspruch nehmen würden.
Wie realistisch sind Verhandlungen mit Putin?
Nach Einschätzung von Sachs stellt die Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus Sicht Putins die zentrale Frage dar. Er hält daher Verhandlungen für wahrscheinlich möglich. Putin stehe auch unter Druck von China und Indien den Krieg zu beenden. In jedem Fall, so Sachs, hat der Westen bei Verhandlungen nichts zu verlieren.
Im Übrigen habe es im März bereits Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gegeben. Selenskij soll Neutralität angeboten und Putin dem zugestimmt haben, woraufhin Selenskij aber einen Rückzieher gemacht habe. Laut Sachs gibt es glaubwürdige Berichte wonach die USA und Großbritannien Selenskij unter Druck gesetzt haben, sich von den Verhandlungen zurückzuziehen.[8] Die USA hätten kein Interesse an einem Kompromissfrieden. Das werde deutlich an den Aussagen von Biden, wonach Putin nicht an der Macht bleiben könne sowie Verteidigungsminister Austin, der es zum Ziel des Krieges erklärte Russland nachhaltig zu schwächen. Sachs nimmt an, dass es das ursprüngliche Ziel Putins gewesen ist Neutralität der Ukraine zu erzwingen. Er sieht darin eine Reaktion Russlands auf die Aufrüstung der Ukraine durch die USA, was die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigt habe. Die USA hätten Russland, so Sachs wörtlich wie „shit“ behandelt.
Über die relative Bedeutung der verschiedenen von Putin genannten Motive und Ziele seines Krieges gegen die Ukraine kann man nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich haben sich diese im Verlauf des Krieges auch verändert. Es spricht aber sehr viel dafür, dass die Verhinderung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine im Vorfeld des Krieges von überragender Bedeutung war. Schließlich hat Putin seit mindestens 15 Jahren immer wieder unmissverständlich deutlich gemacht, dass Russland das Vorrücken der NATO an die Grenzen Russlands als unmittelbare Bedrohung betrachtet. Umgekehrt war den USA sehr bewusst, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO für die Russen eine „leuchtend rote Linie“ darstellt.[9]
Tatsache ist auch, dass Putin am 30. September gleichzeitig mit der Verkündung der Annexion von Teilen der Ukraine erklärt hat, zu Verhandlungen bereit zu sein. Dies allerdings nicht ohne gleichzeitig zu betonen, dass die annektierten Gebiete keine Verhandlungsmasse seien. In Reaktion hierauf wurden von Selenskij Verhandlungen mit Putin per Dekret untersagt. Der russische Außenminister Lavrov hat zudem jüngst Putins Bereitschaft zu einem Treffen mit Präsident Biden signalisiert.[10] Vom Westen im Allgemeinen und den USA im Besonderen sind dagegen erstaunlicherweise keine Bemühungen um Verhandlungen bekannt, die Tod und Zerstörung in der Ukraine zunächst stoppen und dann vielleicht auch beenden. Die „Guten“ scheinen allein auf eine Fortsetzung der militärischen Erfolge der Ukraine zu setzen.
[1] "We are on a path of escalation to nuclear war, nothing less" - Jeffrey D. Sachs - YouTube
[2] F*** the EU: Alleged audio of US diplomat Victoria Nuland swearing - YouTube
[3] USA: Bei russischem Einmarsch in die Ukraine geht Nord Stream 2 nicht in Betrieb | AFP - YouTube
[4] For the United States, Nord Stream Destruction Looks Like a Juicy "Strategic Opportunity" - YouTube
[5] The Pathway to a Negotiated Peace in the Ukraine with Jeffrey Sachs - YouTube
[6] Vernichtung von Russlands Armee?: Warnung von EU-Außenbeauftragtem Borrell erregt Aufsehen - n-tv.de
[7] Secretary Antony J. Blinken at a Press Availability - United States Department of State
[8] Diplomacy Watch: Did Boris Johnson help stop a peace deal in Ukraine? - Responsible Statecraft
[9] Wollten die USA den russischen Krieg gegen die Ukraine? (substack.com)
[10] Putin will Biden treffen – Sondiert er seine Verhandlungschancen? - Berliner Morgenpost