Wollten die USA den russischen Krieg gegen die Ukraine?
Afghanistanisierung statt Finnlandisierung
Kein Zweifel, Russland hat unter der Führung von Wladimir Putin den völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine befohlen und trägt die Hauptverantwortung für das Leid und die Zerstörung in dem gepeinigten Land. Diese Feststellung schließt aber eine Mitverantwortung des Westens unter Führung der USA nicht aus. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob der Westen alles getan hat, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern, oder ob das möglicherweise ganz gezielt unterblieben ist.
Die Frage ist provokant, klingt für die Ohren eines Westeuropäers vielleicht gar absurd. Die USA gehören doch zu den Guten, zumindest seit Joe Biden Donald Trump im Weißen Haus abgelöst hat. Sie setzen sich doch unermüdlich für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und natürlich Frieden ein – oder etwa nicht?
Betrachten wir zunächst nüchtern einige Fakten. Schon im Jahr 1996 lehnte der damalige russische Außenminister Jewgeni Primakov eine NATO-Osterweiterung kategorisch ab. Rußland könne nicht zulassen, dass die militärischen Strukturen des westlichen Bündnisses bis an seine Grenze vorrückten, so Primakov.
Der im Jahr 2005 verstorbene große amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan äußerte sich zur Politik der NATO-Osterweiterung in einem Beitrag für die New York Times im Februar 1997 wie folgt: “expanding NATO would be the most fateful error of American policy in the entire post-cold war era” …"Such a decision may be expected to inflame the nationalistic, anti-Western and militaristic tendencies in Russian opinion; to have an adverse effect on the development of Russian democracy; to restore the atmosphere of the cold war to East-West relations, and to impel Russian foreign policy in directions decidedly not to our liking". Diese Worte klingen heute, ein Vierteljahrhundert später, schon fast unheimlich seherisch. Ungeachtet dieser Warnung aus berufenem Munde fand kurze Zeit später, im Jahr 1999, die erste NATO-Osterweiterung mit der Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn statt. Im Jahr 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Mit der Aufnahme der baltischen Staaten rückte die NATO bis an die russische Grenze vor.
Im April 2008 verhandelte die NATO auf dem Treffen in Bukarest über die Aufnahme der Ukraine und Georgiens. Der damalige US-Botschafter in Moskau, William Burns, der heute CIA Chef in der Biden Administration ist, schrieb unmittelbar vor dem Gipfel an die US Außenministerin Condoleeza Rice: „Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist für die russische Elite, nicht nur für Putin, die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunkelsten Winkeln des Kreml, bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.“ … „Das Russland von heute wird reagieren, die russisch-ukrainischen Beziehungen werden tief einfrieren. Das wird einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ost-Ukraine schaffen.“ Deutschland und Frankreich in Gestalt von Merkel und Sarkozy verhinderten mit ihrem Veto auf dem Gipfel in Bukarest zwar den kurzfristigen NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens. US-Präsident Bush setzte aber durch, dass die beiden Ländern eine Zusage für einen NATO-Beitritt zu einem späteren Zeitpunkt erhalten: „Wir haben uns gestern darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden“, hieß es lapidar in der Gipfelerklärung zur Ukraine und zu Georgien.
Der russische Präsident Putin, der am letzten Tag des NATO-Gipfels in Bukarest dabei war, sagte dort: "Das Entstehen eines mächtigen Militärblocks an unseren Grenzen würde in Russland als direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes betrachtet”. Schon im Vorfeld des Gipfels, auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 hatte er beklagt: „Die Nato expandiert. Wir gaben unsere Stützpunkte auf Kuba und in Vietnam auf. Und was bekamen wir dafür? Neue amerikanische Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien. […] Wir sind zu Vergeltungsmaßnahmen gezwungen.“
Die nächste Eskalationsstufe im Konflikt um die Ukraine zündete im November 2013. Der ukrainische Präsident Janukowitsch lehnt die Unterzeichnung eines ausverhandelten Assoziierungsabkommens mit der EU unter russischem Druck ab. Das Abkommen wäre ein Schritt zu einer EU-Aufnahme und einer Integration der Ukraine in den Westen gewesen, einer Integration, die auch eine militärische Zusammenarbeit vorgesehen hätte. Es kam zu anhaltenden Protesten auf dem Kiewer Maidan, die im Januar und Februar in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Janukowitschs Sicherheitskräften mündeten. Am 22. Februar 2014 floh Janukowitsch nach Russland. Ob die Ereignisse als demokratischer Volksaufstand oder als Putsch gegen einen gewählten Präsidenten zu werten sind sei hier dahingestellt. Dass die neuen Machtverhältnisse aus russischer Perspektive nichts Gutes verhießen, wurde aber bereits einen Tag nach der Flucht des Präsidenten klar. Das Parlament setzte Minderheitensprachgesetze außer Kraft, die es Regionen gestatteten Russisch zur offiziellen Sprache neben Ukrainisch zu erklären. Russland reagierte durch eine kampflose Annexion der Krim und die Unterstützung von Separatisten im Osten der Ukraine, ganz wie es William Burns im Jahr 2008 vorhergesagt hatte.
Am 05. März 2014 äußerte sich der ehemalige Außenminister Henry Kissinger in der Washington Post zu dem Konflikt: „Public discussion on Ukraine is all about confrontation. But do we know where we are going? In my life, I have seen four wars begun with great enthusiasm and public support, all of which we did not know how to end and from three of which we withdrew unilaterally. The test of policy is how it ends, not how it begins. Far too often the Ukrainian issue is posed as a showdown: whether Ukraine joins the East or the West. But if Ukraine is to survive and thrive, it must not be either side’s outpost against the other — it should function as a bridge between them. …Russia must accept that to try to force Ukraine into a satellite status, and thereby move Russia’s borders again, would doom Moscow to repeat its history of self-fulfilling cycles of reciprocal pressures with Europe and the United States. The West must understand that, to Russia, Ukraine can never be just a foreign country.” Kissinger schlug vor, was man als eine “Finnlandisierung“ der Ukraine nennen kann: „ 1. Ukraine should have the right to choose freely its economic and political associations, including with Europe. 2. Ukraine should not join NATO ... 3. Ukraine should be free to create any government compatible with the expressed will of its people. Wise Ukrainian leaders would then opt for a policy of reconciliation between the various parts of their country. Internationally, they should pursue a posture comparable to that of Finland. That nation leaves no doubt about its fierce independence and cooperates with the West in most fields but carefully avoids institutional hostility toward Russia.” Kissingers Ratschläge wurden sowohl von den USA, als auch von der Ukraine in den Wind geschlagen.
Die mit dem Beitrittsbegehren der ukrainischen Regierung verbundenen Risiken waren dem außenpolitischen Establishment der USA auch in jüngster Vergangenheit sehr bewusst. Dies belegt ein Zitat aus dem 2019 veröffentlichten Buch des heutigen CIA Chefs William Burns, “The Back Channel”, der über die NATO-Osterweiterung schreibt: „Die Expansion der NATO-Mitgliedschaft ist zu einem Autopiloten der US-Politik geworden, lange nachdem ihren fundamentalen Annahmen hätten überprüft werden müssen.“ Die Absicht der USA, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, bezeichnete Burns als „eine leuchtende rote Linie für jede russische Führung.“
Diese leuchtende rote Linie ist aber kein Hindernis für die NATO unter Führung der USA. In einem auf der Homepage des Weißen Hauses am 21. September 2021 veröffentlichten Joint Statement der Präsidenten Biden und Zelensky heißt es: “Supporting Ukraine’s Euro-Atlantic Aspirations: As the United States and Allies reaffirmed in the June 2021 NATO Summit Communique, the United States supports Ukraine’s right to decide its own future foreign policy course free from outside interference, including with respect to Ukraine’s aspirations to join NATO.” Und weiter: “The United States is announcing a new USD 60 million security assistance package, including additional Javelin anti-armor systems and other defensive lethal and non-lethal capabilities, to enable Ukraine to more effectively defend itself against Russian aggression. The United States has committed USD 2.5 billion in support of Ukraine’s forces since 2014, including more than USD 400 million this year alone.”
Einige Monate später, am 23. Dezember 2021 antwortete Putin auf die Frage einer Sky-Reporterin, ob er eine Invasion der Ukraine ausschließen könne: “Wir haben deutlich gemacht, dass jede weitere NATO-Erweiterung nach Osten unakzeptabel ist. Wir stationieren keine Raketen in der Nähe der US-Grenzen, aber die USA stationieren Raketen in der unmittelbaren Nähe Russlands. Haben wir exzessive Forderungen? Wir verlangen nur, dass keine Angriffssysteme in unserer Nähe stationiert werden. Was ist daran so ungewöhnlich? Was würden die USA sagen, wenn wir unsere Raketen in Kanada oder Mexiko stationieren würden?“ … „Das ist eine Frage der Sicherheit … nicht einen Schritt Richtung Osten, das war die NATO-Garantie 1990. Sie haben uns betrogen. Wir hatten fünf Wellen NATO-Osterweiterungen … Sie installieren ihre Angriffssysteme dort. … Die NATO kam an unsere Grenze. Jetzt soll auch die Ukraine in die NATO aufgenommen werden und sie wollen ihre Militärbasen und Angriffssysteme dort installieren, vielleicht auch auf bilateraler Basis. Das ist es, worum es geht. … Wir verlangen Sicherheitsgarantien.“
Es fällt vielleicht schwer vor dem Hintergrund des täglich in der Ukraine angerichteten Horrors nüchtern über diese Putinschen Forderungen nachzudenken, doch wer es schafft, kann eigentlich nur zu dem Ergebnis kommen, dass die Ablehnung eines NATO-Beitritts der Ukraine aus russischer Perspektive nachvollziehbar ist. Zweifellos richtig ist, dass die USA russische oder auch chinesische Militärstützpunkte in Mexiko nicht hinnehmen würden. Laut der unverändert gültigen Monroe-Doktrin würden die USA ein derartiges Unterfangen als feindseligen Akt interpretieren und entsprechend handeln.
Die USA erteilten Putins Forderung dennoch eine glasklare Absage. Außenminister Blinken sagte im Januar 2022: „Wir werden das Prinzip der offenen Tür der Nato aufrechterhalten. Es gibt keine Änderung, es wird keine Änderung geben. Die Tür der Nato ist offen, bleibt offen, und das ist unsere Verpflichtung.“ Warum das Prinzip der offenen Tür so wichtig sein soll, dass um dieses Prinzips willen sogar ein Krieg riskiert werden muss, blieb offen.
Führende russische Politiker, allen voran Putin haben immer wieder durch Worte und Taten unmissverständlich klargestellt, dass sie eine Aufnahme der Ukraine in die NATO oder auch eine bilaterale militärische Kooperation der Ukraine mit den USA als eine existenzielle Gefahr begreifen, die aus ihrer Sicht völlig unakzeptabel ist. Diese russische Perspektive war den USA inklusive der Biden-Administration sehr bewusst. Dennoch haben die USA immer wieder auf eine NATO-Aufnahme der Ukraine gedrängt, auch dann noch, als der drohende russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze bereits begonnen hatte. Mit einer Neutralität nach dem Vorbild Finnlands, wie sie Henry Kissinger vorgeschlagen hat, hätte der Krieg wahrscheinlich verhindert werden können. Es wäre mindestens einen Versuch wert gewesen. Eine solche Neutralität hätte der Ukraine, auch aufgrund ihrer inneren Zerrissenheit, wahrscheinlich eher gedient als eine NATO-Mitgliedschaft. Aber die USA wollten allem Anschein nach keinen solchen Kompromiss. Das heißt, sie haben den Krieg mindestens billigend in Kauf genommen, wenn nicht gewollt. Das ändert nichts daran, dass Putins völkerrechtswidriger Krieg gegen die Ukraine ein mörderisches Unrecht ist, aber es bedeutet, dass USA und NATO daran, dass es so weit kommen konnte, eine erhebliche Mitverantwortung tragen.
Auch drei Monate nach Ausbruch des Krieges und beachtlichen Erfolgen der ukrainischen Verteidiger scheinen die USA keinerlei Interesse an einem Kompromissfrieden zu haben. US-Verteidigungsminister Austin sagte bei einem Besuch in der Ukraine: „Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat“. Russland habe signifikante militärische Verluste erlitten, auch „viele Soldaten“, erklärte der pensionierte Vier-Sterne-General. Das Pentagon setze nun alles daran, sicherzustellen, dass Russland nicht in der Lage sein wird, „diese Kapazitäten schnell wieder aufzubauen“. Präsident Biden hatte sich zuvor bei einem Besuch in Polen sogar zu der Bemerkung hinreißen lassen, Putin könne nicht Präsident bleiben.
Die Strategie der USA scheint also darauf abzuzielen, die Russen bis zum letzten Ukrainer zu bekämpfen. Statt auf eine Finnlandisierung, setzen sie auf eine Afghanistanisierung der Ukraine. Um Russland zu schwächen, lässt die USA die Ukrainer verbluten. Die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, plappert nach, was sie von den USA hört, sie sagte bei Anne Will: „Russland soll volkswirtschaftlich jahrelang nicht mehr auf die Beine kommen“. Dabei fühlt man sich an die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright erinnert, die die Sanktionen gegen den Irak, die zum Tod von mehr als einer halben Million irakischer Kinder geführt haben sollen unterstützte. Auf die Frage, ob sie die Sanktionen trotz der vielen Toten für gerechtfertigt halte, sagte sie: „Wir denken, der Preis ist es wert.“ Man könnte zynisch sagen: Wenn es der guten Sache dient, kommt es auf ein einige hunderttausend Tote mehr oder weniger nicht an!
In den Ländern der EU (mit Ausnahme von Ungarn) im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen gibt es wenig Widerstand gegen die amerikanische Strategie einer Afghanistanisierung der Ukraine. Dabei trägt Europa doch die Hauptlast der Sanktionen und der damit verbundenen Risiken für die Energieversorgung, muss die Flüchtlinge aus der Ukraine versorgen und wird wahrscheinlich den größten Teil der Kosten für einen Wideraufbau stemmen müssen. Vor allem aber trägt Europa im Vergleich zu den USA ein wesentlich größeres Risiko, wenn der Krieg eskaliert, sei es konventionell über die Grenzen der Ukraine hinaus, oder gar nuklear. Es ist allerhöchste Zeit für die EU und Deutschland eine eigenständige Strategie zu entwickeln, die auf einen Kompromissfrieden hinwirkt, statt das Töten mit immer mehr Waffen anzufeuern. Blind der US-Strategie zu folgen ist kein Erfolgsrezept, wie die Desaster in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen eigentlich überdeutlich gezeigt haben, sondern führt vielmehr ins Elend.