Trump im Amt, Ami goes home
"Dorment Nato": Abzug US-Militär aus Europa, Rückbau der NATO zu einem ruhenden Verteidigungsbündnis. Transatlantiker in Panik. Was tun, wenn Trump Europas Sicherheit den Europäern überlässt?
Sicherheitspolitische Realisten werden in der Trump II-Präsidentschaft eine dominierende Rolle spielen.
„Dorment NATO”-Konzept aus dem Trump-Umfeld: Abzug des US-Militärs aus Europa, „Offshore-Balancing“-Strategie, Lastenverschiebung auf Europäer, Rückbau der NATO-Bürokratie, kategorische Ablehnung von Neuaufnahmen in die NATO.
Strategischen Optionen für Europäer:
1.) Unterordnung unter die USA als Protektorat.
2.) Strategische Autonomie und Abschreckung Russlands.
3.) Strategische Autonomie und eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung.
Trump ist Präsident: Transatlantiker in Panik
Die Transatlantiker sind seit der Wahl von Donald Trump in heller Aufregung. Trump hat offen damit gedroht, die US-Truppenpräsenz in Europa zu reduzieren, den Austausch von Geheimdienstinformationen mit den NATO-Verbündeten einzuschränken, mit Russland über die Köpfe der Ukraine hinweg einen Deal zu machen und diejenigen NATO-Staaten, die nicht genug für ihre Verteidigung ausgeben, im Ernstfall nicht zu verteidigen. Schlimmer noch, er würde Russland sogar "ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“, so Trump während des Präsidentschaftswahlkampfes. Ob das nach Trumps Erdrutschsieg und der Übernahme des Präsidentenamtes noch gilt oder Geschwätz von gestern ist, kann man nicht wissen. Trumps Verhalten ist unvorhersagbar und er scheint das als Stärke zu begreifen. Er hat vermutlich keinen eigenen ausdifferenzierten außenpolitischen Kompass, was ihn empfänglich macht für die Einflüsterungen derer, denen es gelingt seine Gunst und Aufmerksamkeit zu erlangen.
Außenpolitische Denkschulen: Primacists, Restrainers, Prioritizers
Um die Gunst des Präsidenten konkurrieren drei Strömungen, die alle auch in der Republikanischen Partei zu finden sind. Diese Strömungen haben unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle der USA in der Welt im Allgemeinen und vom Engagement für die europäische Sicherheit und den Krieg in der Ukraine im Besonderen.
Primacy: Strategie globaler Vorherrschaft
Die Anhänger der Primacy-Strategie (Strategie der Vorherrschaft) sehen die USA als „unexpendable nation“ (unverzichtbare Nation) und einzige Weltmacht. Sie argumentieren, dass die USA trotz zahlreicher Rückschläge, hoher Kosten und rivalisierender innenpolitischer Prioritäten weiterhin eine globale geopolitische Dominanz anstreben sollten. Als Voraussetzung dafür sehen sie eine konkurrenzlose militärische Überlegenheit, die militärische Präsenz auf den wichtigsten regionalen Schauplätzen, vor allem in Europa, Ostasien und dem Nahen Osten, die Kontrolle der globalen See- und Luftwege sowie ein weltweites Netzwerk von Militärallianzen unter amerikanischer Führung. Primacists haben die US-Außenpolitik der letzten Jahrzehnte bestimmt, egal ob ein Demokrat (liberale Interventionisten) oder ein Republikaner (Neocons) im Weißen Haus saß. Dies erklärt den im Vergleich zu anderen Ländern gewaltigen Verteidigungshaushalt und die weltweit verstreuten US-Militärstützpunkte.
Primacists sind verantwortlich für den Krieg gegen den Irak, den sie mit einer Lüge über dessen angebliche Massenvernichtungswaffen rechtfertigten. Sie haben wesentlich zu den Bürgerkriegen und der Anarchie in Syrien und Libyen beigetragen, mit dem Versuch unliebsame Machthaber zu stürzen. Auch nach 20 Jahren wollten sie nicht aus Afghanistan abziehen. Den Einmarsch Russlands in die Ukraine sehen sie als direkte Folge dieses schmachvollen Rückzugs der USA, der in ihren Augen amerikanische Schwäche signalisierte. Ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine durch einen Kompromissfrieden, der eine dauerhafte Neutralität des Landes vorsieht, lehnen sie ab und setzen stattdessen darauf, dass die Ukraine mit westlichen Waffenlieferungen Russland wieder von ihrem Territorium vertreiben kann.
Primacists fordern höhere Militärausgaben von den Verbündeten der USA, insbesondere in Europa und Ostasien. Sie trauen den Europäern jedoch nicht zu, ihre Verteidigung vollständig selbst in die Hand zu nehmen, und halten dies auch nicht für wünschenswert, da dies die Dominanz der USA in Europa untergraben würde.
Mit Nikki Haley, Mike Pompeo, John Bolton und Mike Pence spielten die Primacists selbst während der ersten Präsidentschaft Trumps eine wichtige Rolle, obwohl Trump versprochen hatte, die „ewigen Kriege“ zu beenden. Einige von ihnen stellten sich im Wahlkampf 2024 entschieden gegen Trump und unterstützten Kamala Harris. Nach seiner Wahl erklärte Trump, dass die Primacists in der Regierung Trump II keine Rolle spielen würden.
Rückkehr der außenpolitischen Realisten
Die ambitionierte Strategie einer globalen US-Hegemonie wurde von Realisten schon immer kritisiert, aber sie wurden nicht gehört. Angesichts der desaströsen Ergebnisse der zahlreichen militärischen Engagements der USA seit Ende des Kalten Krieges und der wachsenden Herausforderung durch China haben Realisten Rückenwind. Sie wollen die US-Außenpolitik an den Interessen des Landes ausrichten und plädieren für Zurückhaltung (Restrainer) oder zumindest Prioritätensetzung (Prioritizer).
Restrainer fordern einen weniger aktivistischen Ansatz, der sich vor allem auf diplomatisches und wirtschaftliches Engagement statt auf militärische Interventionen konzentriert und darauf verzichtet, andere Länder zu liberalen Demokratien nach westlichem Vorbild umzugestalten. Nach Ansicht der Restrainer ist eine weniger aktivistische Außenpolitik besser für die Sicherheit der USA. Sie drängen daher auch darauf, die Bündnisverpflichtungen der USA zu verringern, die Sicherheit der Europäer den Europäern zu überlassen und das US-Militär aus Europa schrittweise abzuziehen.
Für die Prioritizer muss China im Zentrum der außenpolitischen Strategie der USA stehen, da der wirtschaftliche und militärische Aufstieg des Landes als eine existenzielle Herausforderung für die USA wahrgenommen wird. Sie sind der Ansicht, dass die chinesische Bedrohung eine ähnlich offensive Reaktion erfordert, wie das US-Engagement gegen die Sowjetunion nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Prioritizer rechnen damit, dass China danach strebt, die USA aus der Region zu verdrängen und sich zum regionalen Hegemon aufzuschwingen. Sie sehen es als ein vorrangiges Interesse der USA an, genau dies zu verhindern, was eine Verstärkung der militärischen Präsenz der USA in Asien und im Zweifelsfall auch die Verteidigung der faktischen Unabhängigkeit des von China beanspruchten Taiwan einschließt. Wie die Restrainer betonen auch die Prioritizer, dass die Ressourcen der USA begrenzt sind, weshalb auch sie einen Abzug des US-Militärs aus Europa fordern.
“Dorment NATO”: Eine neue US-Strategie für das Bündnis
So genannte „China-Falken“ werden in der Trump-Administration in Gestalt des Außenministers Marco Rubio, des Verteidigungsministers Pete Hegseth und des stellvertretenden Verteidigungsministers Elbridge Colby eine dominierende Rolle spielen.
Die Trump nahestehende konservative Denkfabrik Center for Renewing America veröffentlichte im Februar 2023 einen Vorschlag von Sumantra Maitra mit dem Titel Pivoting the US Away from Europe to a Dormant NATO, der auf einen weitgehenden Rückzug der USA aus Europa hinausläuft und nach derzeitigem Stand der Dinge realistische Chancen hat, in der Trump-Administration auf offene Ohren zu stoßen.
NATO nach dem Ende des kalten Krieges: Vom Verteidigungsbündnis zur ideologischen, expansiven Organisation
Maitra argumentiert, dass das andauernde militärische Engagement der USA in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges und des damit verbundenen Verschwindens der Bedrohung durch die Sowjetunion ein strategischer Fehler gewesen sei. Die NATO habe ihre eigentliche Funktion als Verteidigungsbündnis aufgegeben und sich in eine ideologisch motivierte supranationale Organisation verwandelt, die im Namen der Verbreitung von Demokratie und westlichen Werten nach Expansion strebe. Diese Wahrnehmung Maitras findet ihre Bestätigung in dem sturen Beharren auf der „open door policy“ der NATO, nachdem Russland ein Ende der NATO-Osterweiterung Ende 2021 gefordert hatte. Eine Verteidigungsgemeinschaft kommt ohne offene Türen aus, eine ideologisch motivierte, expansive supranationale Organisation wie die NATO oder die EU nicht. Die im NATO-Strategiepapier vom Juni 2022 betonte Bedrohung der transatlantischen Gemeinschaft durch Russland angesichts des Krieges in der Ukraine hält Maitra für maßlos übertrieben. Russland habe weder die militärische Fähigkeit dazu den Rest Europas zu attackieren, noch gebe es Anzeichen dafür, dass Russland daran interessiert sei.
Die NATO-Osterweiterung und die andauernde Präsenz der USA in Europa haben die Westeuropäer laut Maitra dazu verleitet ihre eigenen Verteidigungsausgaben immer weiter zu reduzieren. Die Unterstützung der Ukraine sei zu einem unverhältnismäßig großen Teil von den USA getragen worden. Die seit langem von den USA geforderte Lastenteilung („burden sharing“) in Form einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben sei ausgeblieben.
Rückzug der USA aus Europa
Statt einer Lastenteilung schlägt Maitra für die Zukunft eine Lastenverschiebung („burden shifting“) vor. Während eine Lastenteilung auf die Kooperation der Europäer angewiesen ist, stellt die Lastenverschiebung eine einseitige, allein an US-Interessen ausgerichtete Maßnahme dar und kommt als solche Trump Neigungen entgegen. Die USA würden nach den Vorstellungen von Maitra einen fixen und knapp bemessenen Zeitrahmen vorgeben, innerhalb dessen sie sich militärisch weitgehend aus Europa zurückziehen, eine „Offshore-Balancing“-Strategie umsetzen und damit die Europäer zwingen, die Kosten ihrer Sicherheit selbst zu tragen. Die europäischen NATO-Staaten haben eine ca. dreieinhalbmal größere Bevölkerung und eine neunmal größere Wirtschaftskraft als Russland und verfügen daher zweifellos über die Fähigkeit dazu. Als „Offshore-Balancer“ würden die USA nur eine Art letzte Verteidigungslinie für den Fall darstellen, dass Russland sich doch noch zu einem regionalen Hegemon aufzuschwingen droht. Eine begrenzte amerikanische Marine- und Luftwaffenpräsenz bliebe in Europa. Die USA würden den NATO-Mitgliedern zudem ihren so genannten nuklearen Schutzschirm zur Verfügung stellen, darauf hinwirken die Verbreitung von Atomwaffen auf dem Kontinent zu verhindern und mögliche Konflikte zwischen den europäischen NATO-Mitgliedern unterdrücken. Tatsache ist, dass Frankreich, Deutschland und andere westeuropäische Staaten erst dann ihr Trittbrettfahrerverhalten aufgeben und ernsthaft in ihre Streitkräfte investieren werden, wenn sie sich nicht mehr auf den Schutz der USA verlassen können, argumentiert Maitra.
Das „Dorment-NATO“-Konzept sieht ferner vor den NATO-Oberbefehl in Europa, der bislang stets von einem US-General ausgeübt wurde, an einen Europäer zu übergeben. Die NATO verfügt derzeit über mehr als 1.000 zivile Mitarbeiter, sie finanziert regelmäßig Organisationen der sogenannten Zivilgesellschaft die die Unterstützung für eine NATO-Mitgliedschaft aufrechterhalten oder dafür werben. NATO-Bürokraten äußern sich regelmäßig zu politischen Fragen, sei es über Gegner oder über die Innenpolitik verbündeter Staaten. All dies, so Maitra, sei nicht im Interesse der USA. Der US-Kongress sollte daher aufhören dies zu finanzieren. „Dormant NATO“ bedeutet, dass sämtliche Aktivitäten der NATO eingestellt werden, die nicht militärisch notwendig sind. Eine weitere Ausdehnung der NATO wird kategorisch abgelehnt. Die Umwandlung der NATO in eine expansive supranationale Organisation soll rückgängig gemacht werden, und eine feste Grenze ist dafür die wichtigste Voraussetzung.
Ami goes home: Chance oder Risiko für Europa?
Transatlantiker, Politiker wie Experten, bedauern ausdrücklich, dass in der Trump 2.0 Präsidentschaft Primacists außen vor bleiben sollen. Jana Puglierin vom ECFR schreibt: "Die Primacists wollen die globale Führungsrolle der USA weiter aufrechterhalten. Sie sehen Amerikas Engagement in der Nato und die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine als strategisches Interesse Amerikas. Leider hat Trump ihre Vertreter bei der Postenvergabe explizit ausgeschlossen." Einen Rückzug der USA aus Europa sehen Transatlantiker primär als Bedrohung Europas, weil Europa nicht selbst für seine Sicherheit garantieren könne. Sie präferieren mit anderen Worten ein Europa welches, wenn nicht formal, so doch de facto US-Protektorat bleibt, gegenüber einer echten Souveränität der europäischen Nationalstaaten.
US-Außenpolitik nach Ende des Kalten Krieges nicht im Interesse Europas
Die Wahrnehmung der USA als wohlmeinende Schutzmacht muss allerdings eine sehr selektive sein. Sie mag vielleicht im Kalten Krieg zutreffend gewesen sein, als sich das Interesse Westeuropas an Schutz vor der Sowjetunion und ihrer aggressiven universalistischen Ideologie mit dem sicherheitspolitischen und ökonomischen Interesse Washingtons deckte, eine Ausbreitung des Kommunismus und eine Hegemonie der Sowjetunion auch über Westeuropa zu verhindern. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die USA vorübergehend zur einzigen Weltmacht. Den Transatlantikern ist entgangen, dass spätestens damit auch die Interessenkongruenz zwischen den USA und den europäischen Protektoraten zu Ende gegangen ist. Die USA strebten jetzt danach, ihre Rolle als einzige Weltmacht zu zementieren. Die NATO-Osterweiterung diente nicht zuletzt dazu Russland niederzuhalten und Europa nach dem Prinzip „teile und herrsche“ zu spalten. An einer europäischen Sicherheitsarchitektur, die sich nicht gegen Russland richtet, sondern Russland einbezieht, hatten die USA kein großes Interesse, obwohl es zahlreiche prominente Warner gab. Der nachdrückliche Wunsch der osteuropäischen Staaten nach einer Mitgliedschaft in dem Bündnis kam ihnen entgegen.
Die aggressive Außenpolitik der USA seit dem Ende des Kalten Krieges hat Europa offenkundig schweren Schaden zugefügt. Das zumeist völkerrechtswidrige militärische „Engagement“ unter Beteiligung zahlreicher europäischer NATO-Staaten in den Kriegen in Europa (Serbien) und in der europäischen Nachbarschaft (Irak, Syrien, Libyen …) hat gefährliche Präzedenzfälle geschaffen und dem alten Kontinent eine anhaltende Migrationskrise beschert, verbunden mit einer drastisch gestiegenen Terrorgefahr. Das Beharren der USA auf einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ab 2008, und nochmal nachdrücklich im Jahr 2021 sowie die Unterstützung des Regierungswechsels/Putsches im Jahr 2014 waren der Casus Belli für Russland. Angela Merkel, William Burns und vielen anderen war völlig klar, dass mit einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eine „leuchtend rote Linie“ überschritten würde. Man musste auch kein Sicherheitsexperte sein, um zu verstehen, dass Russland nicht tatenlos zusehen würde, wie NATO-Stützpunkte in der Ukraine errichtet werden und die NATO-Kriegsschiffe den Heimathafen der Schwarzmeerflotte auf der Krim übernehmen. Ohne die Bedrohung durch eine expansive NATO unter Führung der USA hätte es den russischen Angriff vom Februar 2022 mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben und ohne den Wunsch der USA, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um den geopolitischen Rivalen Russland zu schwächen, hätte der Krieg ein schnelles Ende gefunden. Der Sicherheit Europas war diese Politik der Schutzmacht nicht gerade zuträglich. Schließlich haben die USA wahrscheinlich auch deutsche Energieinfrastruktur (Nordstream) zerstört oder dies gebilligt, mit Sicherheit haben die USA diesen Terroranschlag freudig begrüßt. Es spricht also einiges dafür, dass die Politik der angeblichen Schutzmacht eher eine Gefahr für Europa darstellt, als das sie die Sicherheit Europas gewährleistet.
Auch die noch von Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz für 2026 vereinbarte Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland sorgt nicht für zusätzliche Sicherheit hierzulande, sondern macht Deutschland in einer Konfliktsituation zum Ziel für mögliche russische Präventivschläge. Sie ermöglicht es den USA von Deutschland aus Krieg zu führen. Deutschland kann dies nicht verhindern, trägt aber das Risiko russischer Präventiv- oder Gegenschläge. Es gehört ein hohes Maß an Naivität dazu, zu glauben die USA würden dabei unbedingt im Interesse Deutschlands handeln.
Strategische Optionen für die Europäer bei einem Rückzug der USA
Bei einem wahrscheinlichen Rückzug der USA vom alten Kontinent können die Europäer (gemeint sind die europäischen NATO-Staaten) zwischen drei strategischen Optionen wählen: Erstens bedingungslose Unterordnung unter die USA als Protektorat, um das US-Schutzversprechen aufrechtzuerhalten, zweitens strategische Autonomie und Abschreckung Russlands aus eigener Kraft und drittens strategische Autonomie und eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung.
Wenn Europa sich entscheidet ein US-Protektorat zu bleiben, wird es den Forderungen der Trump-Administration 5% des BIP in die Verteidigung zu investieren, weitgehend nachkommen müssen. Die Trump-Administration wird erwarten, dass die dafür notwendigen Rüstungsgüter vor allem in den USA eingekauft werden. Für Deutschland entspräche dies einem Verteidigungsetat von rund 215 Mrd. Euro, oder 45% des Bundeshaushalts im Jahr 2024, mehr als der aktuelle Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von rund 176 Mrd. Euro. Gleichzeitig müssten die Europäer hinnehmen, dass die USA unter Trump mit niedrigen Steuersätzen, niedrigen Energiekosten und Zöllen Industrie aus Europa abziehen. Diese von transatlantisch geprägten Politikern und Experten offenbar präferierte Strategie führt zu einem unsouveränen, militarisierten und verarmten Europa. Sie führt nicht zu mehr Sicherheit für Europa. Russland wird eine solche Aufrüstung nicht als defensiv, sondern als Bedrohung wahrnehmen und reagieren, um diese Bedrohung abzuwenden.
Mit Militärausgaben in Höhe von 5% ihres BIP, was rund 900 Mrd. Euro entspricht, lägen die europäischen NATO-Staaten bei den Rüstungsausgaben auf dem Niveau der USA und etwa neunmal so hoch wie das derzeit Krieg führende Russland. Das wäre sicher mehr als genug, um Russland aus eigener Kraft und ohne die USA abzuschrecken. Die Europäer könnten eine eigene Rüstungsindustrie aufbauen, sich von den USA emanzipieren und zumindest strategische Autonomie erlangen, vorausgesetzt, sie könnten intern auch ohne die USA ein ausreichendes Maß an innerer Geschlossenheit erreichen. Aber auch diese Strategie führt zu Verarmung, Militarisierung und provoziert eine Reaktion Russlands.
Ein Rückzug der USA unter Trump eröffnet den Europäern auch die Chance eine dritte Strategie zu verfolgen und eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zu entwerfen, statt allein auf militärische Abschreckung Russlands zu setzen. Voraussetzung dafür ist, die Realität zur Kenntnis zu nehmen, statt sie nach den eigenen Wertvorstellungen umgestalten zu wollen. Frieden in einer multipolaren Welt mit unterschiedlichen Zivilisationen und ihren unterschiedlichen Wertvorstellungen erfordert eine Revision des manichäischen westlichen Denkens, das die Welt in Gut und Böse, in Demokratien und Autokratien einteilt. Europa müsste sich von dem moralischen Universalismus verabschieden, der aus Perspektive der Gegenseite, moralischer Imperialismus ist, und sich von Bemühungen um Regimewechsel mit dem Ziel der Demokratisierung im westlichen Sinne distanzieren, insbesondere in Bezug auf Russland und seine Nachbarstaaten. Dies wäre eine Rückkehr zu den Prinzipien des Westfälischen Friedens der souveränen Gleichheit der Staaten und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Staaten.
Eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, die alle europäischen Staaten, einschließlich Russlands einbezieht, muss neben Verpflichtungen zu Zusammenarbeit, Transparenz und friedlicher Konfliktlösung, insbesondere das Prinzip der unteilbaren Sicherheit (Indivisible Security) beachten, welches besagt, dass die Sicherheit jedes Staates untrennbar mit der Sicherheit der anderen verbunden ist und dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten eines anderen stärken darf. Dieses Prinzip wurde auf dem Papier in der Schlussakte von Helsinki (KSZE, 1975), der Charta von Paris für ein neues Europa (1990), der NATO-Russland-Grundakte (1997) und der Europäischen Sicherheitscharta (1999) festgehalten. Es wurde jedoch durch die NATO-Osterweiterung missachtet, die zwar darauf angelegt war, die Sicherheit der NATO-Staaten zu verbessern, was aber gleichzeitig zu einer Einkreisung Russlands durch das mächtigste Militärbündnis der Welt führte.
Die NATO-Osterweiterung hat das Sicherheitsdilemma ignoriert, also die paradoxe Situation, dass Maßnahmen, die die eigene Sicherheit stärken sollen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt Bedrohungen für die Gegenseite schaffen, auf die diese reagiert, was wiederum die eigene Sicherheit untergräbt. Das mündet in einen Rüstungswettlauf, der sich in einer kriegerischen Auseinandersetzung wie jetzt in der Ukraine entladen kann.
Russland hat wiederholt Vorstöße unternommen, um zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu kommen, unter anderem Präsident Medwedew im Jahr 2008. Einige europäische Länder haben den Vorschlag seinerzeit auch positiv aufgenommen. Bei den USA und vielen osteuropäischen Staaten stieß er dagegen auf Ablehnung. Skeptiker sahen darin einen Versuch Russlands, die NATO zu schwächen und seinen Einfluss in Europa auszuweiten. Die russischen Vorstellungen aus dem Jahr 2008 schwangen auch bei den ultimativen Forderungen Russlands vom 17.12.2021, also kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine, noch mit.
Derzeit dürfte Russland wenig Interesse an Verhandlungen mit den Europäern haben, da es diese zu Recht nicht als außenpolitisch souveräne Akteure, sondern als US-Protektorate betrachtet. Das könnte sich aber ändern, wenn sich die Europäer unter dem Druck der Trump-Administration vom großen Bruder emanzipieren. Die besten Chancen dafür bestehen, wenn die alten transatlantisch geprägten Eliten (in Deutschland alle etablierten Parteien) von der Macht verdrängt und durch neue Parteien (in Deutschland AfD und BSW) ersetzt werden, die ihr Land vom US-Protektorat in einen souveränen Nationalstaat verwandeln wollen, der gute und freundschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn anstrebt. Von einer realistischen Interessenpolitik können beide Seiten profitieren: Russland hat weder ein Interesse an einem permanenten Stellvertreterkrieg mit der NATO noch an einem Wettrüsten mit dem wirtschaftlich überlegenen Gegner, wohl aber daran, seine wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu verringern. Die Europäer haben ein Interesse am Zugang zu billigen russischen Rohstoffen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Deindustrialisierung zu stoppen. Beide Seiten haben ein Interesse an der Entmilitarisierung ihrer Kontaktlinien, um das Risiko eines unbeabsichtigten Kriegsausbruchs zu verringern. Längerfristig, wenn ein gewisses Maß an Vertrauen wiederhergestellt ist, haben beide Seiten auch ein Interesse daran, gemeinsam abzurüsten, anstatt gegeneinander aufzurüsten. Die Bürger beider Seiten würden davon profitieren, wenn statt Panzern und Raketen Flugzeuge und Züge gebaut würden, nicht zuletzt für wechselseitige Besuche in einem gemeinsamen Haus Europa, wie es Michail Gorbatschow vorschwebte.