Mittelstreckenraketen: Mehr (nukleares) Risiko statt mehr Sicherheit für Deutschland
Die Bundesregierung legt das Schicksal des eigenen Landes und der eigenen Bevölkerung bedingungslos in die Hände Washingtons.
Die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen ermöglicht es den USA von Deutschland aus Krieg zu führen. Deutschland kann dies nicht verhindern, trägt aber das Risiko.
Zusätzliche Abschreckung ist angesichts der konventionellen Überlegenheit der NATO überflüssig und führt wegen des Sicherheitsparadoxes nicht zu mehr Sicherheit, im Gegenteil.
Im Ernstfall wird Deutschland zum bevorzugten Ziel auch präemptiver Angriffe, weil die US-Mittelstreckenraketen strategische Ziele weit im russischen Hinterland bedrohen.
Die Beschleunigung und Intensivierung eines militärischen Konflikts durch Mittelstreckenraketen, erhöht die Gefahr einer schnellen nuklearen Eskalation.
Ein Fehlalarm in Russland kann leicht zu einem Angriff auf Deutschland führen, da den russischen Entscheidungsträgern nur wenige Minuten Reaktionszeit bleiben. Die Entscheidung, US-Mittelstreckenraketen zu stationieren, war dann nicht nur töricht, sondern auch tödlich.
Die Fakten: USA stationieren Raketen in Deutschland
Am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli dieses Jahres wurde die folgende gemeinsame Erklärung der Regierungen der USA und der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht.
„Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.“
Die gemeinsame Erklärung liest sich so knapp, als ginge es um eine Nebensächlichkeit. Es handele sich um ein Angebot der USA, das Deutschland gerne angenommen habe, so der Politische Direktor im Bundesverteidigungsministerium. In der Pressekonferenz von Olaf Scholz zum NATO-Gipfel klang es etwas anders. Scholz sprach von der „jüngste(n) Entscheidung der USA, weitreichende konventionelle Waffen in Deutschland zu stationieren“ was darauf schließen lässt, dass die USA Scholz vor vollendete Tatsachen gestellt haben.
In der deutschen Öffentlichkeit wird zudem der falsche Eindruck erweckt, die USA hätten diese Entscheidung erst jetzt und vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine getroffen. Tatsache ist, dass bereits im November 2021 in einem Artikel auf Breaking Defense berichtet wurde: „Die US-Armee hat ihr European Theater Fires Command offiziell reaktiviert und bereitet sich auf die Einführung neuer, weitreichender Angriffsfähigkeiten vor, nachdem sie sich von langjährigen vertraglichen Beschränkungen befreit hat“. Mit den langjährigen vertraglichen Verpflichtungen ist der INF-Vertrag über das Verbot landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern gemeint, den die USA 2019 gekündigt haben.
Die Stationierung wird erhebliche sicherheitspolitische Konsequenzen haben, die wenig Anlass zur Dankbarkeit gegenüber Washington geben. Dies gilt insbesondere für Deutschland, da es sich um eine bilaterale Vereinbarung handelt. In der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels findet sich kein Wort zu dieser Stationierungs-Entscheidung. Nirgendwo sonst in Europa ist geplant Mittelstreckenraketen aufzustellen. Die Stationierung ausschließlich in Deutschland ist für die NATO ungewöhnlich, weil sie dem üblichen Ansatz der Risiko- und Lastenteilung widerspricht. Sie ist auch für Deutschland ungewöhnlich, weil damit von der traditionellen Linie abgewichen wird, sich nicht singularisieren zu lassen. So sind an der nuklearen Teilhabe neben Deutschland auch Belgien, Italien und die Niederlande beteiligt. Auch im aktuellen Kontext des Ukraine-Krieges, hat Bundeskanzler Scholz stets großen Wert auf ein gemeinsames Vorgehen mit den Bündnispartnern gelegt.
Drei konventionelle landgestützte Waffensysteme, so genannte Abstandswaffen, sollen stationiert werden:
SM-6 Flugabwehrraketen. Es handelt sich in erster Linie um Defensivwaffen zur Luftabwehr, die aber auch über eine Boden-Boden-Angriffsfähigkeit verfügen. Ihre Reichweite wird von den USA mit 460 km, von russischer Seite mit 740 km angegeben.
Tomahawk Marschflugkörper (Cruise Missiles) fliegen im Unterschallbereich, aber extrem tief, unterhalb des gegnerischen Radars und können so der Flugabwehr entgehen. Sie haben eine Reichweite von 1.700 bis 2.500 Kilometern. Seegestützt stehen sie der NATO bereits zur Verfügung, neu ist der landgestützte Einsatz.
Die Hyperschallrakete (Dark Eagle), die sich noch in der Endphase der Erprobung befindet, eine Reichweite von ca. 2.800 km hat und mit 17-facher Schallgeschwindigkeit fliegt. Dark Eagle ist in der Lage, mit einem Gefechtskopf hoher Sprengkraft Ziele präzise zu treffen.
Ziele tief in Russland von Deutschland aus bedroht
Mit der Stationierung solcher US-Waffensysteme ab 2026 werden erstmals seit dem Inkrafttreten des INF-Abrüstungsvertrags im Jahr 1988 von Deutschland aus wieder Ziele tief in Russland mit bodengestützten Systemen strategischer Reichweite von Deutschland aus bedroht. Die Reichweite schließt Städte wie Moskau ebenso ein, wie Stützpunkte der strategischen Nuklearstreitkräfte, aber auch kritische Infrastruktur oder Industrie- und Rüstungsproduzenten bis zum Ural. Es soll sich um konventionelle Waffen handeln. Aber zumindest von den Tomahawks ist bekannt, dass sie technisch auch nuklear bewaffnet werden könnten.
Wer das Kommando über die Raketen haben wird, wurde nicht explizit erwähnt. Da die Waffensysteme aber im Rahmen der so genannten Multi-Domain Task Force von den USA stationiert werden, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass allein die USA über einen Einsatz dieser Waffen entscheiden und die Bundesregierung nicht einmal ein Veto-Recht besitzt, wie es zumindest auf dem Papier bei der nuklearen Teilhabe der Fall ist.
Die Begründung: Fähigkeitslücke schließen, Russland abschrecken
Die Presseerklärung zu Stationierung nennt zur Begründung die Abschreckung (natürlich Russlands, auch wenn das unerwähnt blieb) und betont das damit bestätigte fortdauernde Engagement der USA in Europa. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hält die Stationierung der US-Systeme zudem für notwendig, um eine „ernstzunehmende Fähigkeitslücke in Europa zu schließen“.
Abschreckung setzt militärische Fähigkeiten voraus, die es im Ernstfall ermöglichen, Ziele des Gegners zu bedrohen und auch zu zerstören. Die Androhung solcher Konsequenzen soll einen Angriff verhindern. Das klingt zunächst intuitiv plausibel, denn gewichtige zusätzliche militärische Fähigkeiten der NATO sollten doch abschreckend auf Russland wirken, und wer wäre nicht dafür so die Wahrscheinlichkeit eines direkten Krieges zwischen der NATO und Russland zu verringern.
Diese Argumentation ist jedoch naiv. Erstens, weil sie die russische Wahrnehmung und Reaktion außer Acht lässt. Zweitens, weil es nicht nur darum gehen kann, die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen der NATO und Russland zu minimieren, sondern auch darum, die Folgen für Deutschland zu berücksichtigen, wenn es doch zu einem Krieg kommt.
Sorge wegen einer NATO-Fähigkeitslücke ist unberechtigt
Wichtiger als eine vermeintliche spezifische Fähigkeitslücke ist ein genereller Vergleich der konventionellen Streitkräfte Russlands und der NATO.
Die folgende Tabelle zeigt eine einfache Schätzung der Anzahl der Land-, Luft- und Seestreitkräfte der NATO und Russlands aus der Military Balance 2024 des Internationalen Instituts für Strategische Studien. Die türkischen Streitkräfte sind nicht berücksichtigt, da ihre Beteiligung fraglich wäre. Die ukrainischen Streitkräfte sind ebenfalls nicht enthalten.
Die konventionelle Überlegenheit der NATO ist erdrückend. Bei den aktiven Bodentruppen und Seestreitkräften hat die NATO gegenüber Russland einen Vorteil von mehr als 3:1, bei den Kampfflugzeugen sogar von 10:1. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Kapazität des NATO-Bündnisses, einen längeren Krieg durchzustehen, größer als die Russlands, da das BIP der NATO-Staaten zusammengenommen etwa 60 Billionen Dollar beträgt - fast zehnmal so viel wie das Russlands. Die Annahme, dass Putin unter diesen Umständen aus imperialistischen Motiven einen Krieg mit der NATO riskieren würde, ist daher ohnehin wenig plausibel.
Aber auch die Behauptung von Verteidigungsminister Pistorius, es gäbe eine spezifische Fähigkeitslücke zu schließen, überzeugt nicht. Es ist zwar richtig, dass die NATO-Partner in Europa nicht über konventionelle landgestützte Marschflugkörper oder ballistische Raketen im Mittelstreckenbereich verfügen. Sie verfügen aber über ein Arsenal luft- und seegestützten Raketen sowie landgestützte Kurzstreckenraketen. Dass die NATO russische Ziele in Europa nur von der See oder aus der Luft und nicht auch mit weitreichenden landgestützten Systemen bedrohen kann, lässt sich schwerlich als Fähigkeitslücke interpretieren.
Sicherheitsparadox: Mehr Waffen bedeuten nicht unbedingt mehr Sicherheit
Wenn die NATO ihre eigene Sicherheit durch zusätzliche Bewaffnung wie die Mittelstreckenraketen oder durch eine Expansion des Bündnisses stärkt, kann dies die Sicherheit des Gegners, also Russlands, beeinträchtigen. Die NATO argumentiert zwar stets, dass sie ein Verteidigungsbündnis sei und die Bewaffnung also rein defensiven Charakter habe. Aber was die NATO sagt, ist nicht entscheidend, entscheidend ist allein die Interpretation Russlands. Angesichts der Äußerungen führender westlicher Politiker im Kontext des Ukraine-Krieges, insbesondere aus den USA und Osteuropa, wonach Putin nicht Präsident bleiben könne und Russland dekolonialisiert und strategisch geschwächt werden solle, kann kein Zweifel daran bestehen, dass Russland hinter einer Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland offensive Absichten vermuten und entsprechend reagieren wird.
Kremlsprecher Peskow hat bereits angedroht, dass Europas Hauptstädte zum Ziel russischer Raketen werden könnten. Russland wird wahrscheinlich mit einer weiteren Stationierung von Mittelstreckensystemen im Westen des Landes oder in Belarus reagieren. Die Bedrohung strategischer Ziele in Russland von deutschem Boden aus macht Deutschland zu einem vorrangigen Ziel russischer Raketenangriffe, konventioneller wie auch nuklearer Art.
Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die zusätzliche Sicherheit, die Deutschland durch die Abschreckung Russlands gewinnt, durch die zu erwartende Reaktion Russlands wahrscheinlich überkompensiert wird. Hier zeigt sich das „Sicherheitsparadox“: Eine Maßnahme, die die Sicherheit erhöhen soll, kann letztlich zu mehr Unsicherheit führen. Dies gilt hier umso mehr, als von der zusätzlichen Abschreckung potenziell am ehesten die baltischen Staaten oder vielleicht sogar eine nach Kriegsende verbliebene Rumpfukraine profitieren, während das zusätzliche Risiko vor allem von Deutschland getragen wird.
Einsatz im Kriegsfall: Nukleares Risiko für Deutschland steigt stark an
Die NATO und ihre „Sicherheitsexperten“ unterstellen, dass Putins Russland eine imperialistische Macht sei, die sich über die Ukraine hinaus weitere Gebiete einverleiben wolle. Als besonders gefährdetes NATO-Gebiet gelten die baltischen Staaten, die unmittelbar an Russland grenzen. Es bestehe daher die Gefahr, so die Strategen, dass Russland in einigen Jahren einen unprovozierten imperialistischen Krieg gegen die baltischen Staaten vom Zaun breche, so wie es 2022 einen unprovozierten Krieg gegen die Ukraine begonnen habe.
Russland sieht seinen Krieg gegen die Ukraine nicht als unprovoziert, sondern als Präventivkrieg gegen das Vorrücken der NATO in die Ukraine, das spätestens mit Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 als „leuchtend rote Linie“ deklariert wurde. Provoziert hat aus russischer Sicht auch die Ukraine selbst. Im März 2021 erließ Selenski ein Dekret, mit dem die Regierung angewiesen wurde, eine Strategie zur „Entbesetzung und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ zu entwickeln. Auf X schrieb Selenski: „Die NATO ist der einzige Weg, um den Krieg im Donbass zu beenden“. Es ist plausibel, dass die langjährige, auch militärische Unterstützung durch die NATO und insbesondere durch die USA, einschließlich der 2021 erneut ausdrücklich in Aussicht gestellten Mitgliedschaft, Selenski zu einem aggressiveren Verhalten ermutigt hat, als er es auf sich allein gestellt gewählt hätte. Auch im Jahr 2008, unmittelbar nachdem der NATO-Gipfel in Bukarest nicht nur der Ukraine, sondern auch Georgien eine künftige NATO-Mitgliedschaft versprochen hatte, fühlte sich der damalige georgische Präsident Saakaschwili ermutigt sein Militär gegen die abtrünnige Region Südossetien in Marsch zu setzen, was in einen kurzen Krieg mit Russland mündete, aus dem sich die NATO heraushielt und der mit einer Niederlage Georgiens endete.
Auch im Baltikum kann ein Krieg mit Russland nicht allein durch die von den hiesigen Medien unterstellten imperialistischen Ambitionen Putins ausbrechen, sondern auch durch komplexere Ursachen zustande kommen. Wie in der Ukraine lebt auch im Baltikum eine große russische Minderheit, über deren Diskriminierung sich Russland ähnlich wie in der Ukraine beklagt und über die vor 2022 auch in der westlichen Presse noch kritisch berichtet wurde. Führende Politiker der baltischen Staaten äußern sich erstaunlich aggressiv gegenüber ihrem großen Nachbarn Russland. So erklärte die estnische Ministerpräsidentin und künftige EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas ein Zerfall der Russischen Föderation in viele kleine Staaten sei ein wünschenswertes Ergebnis des Ukraine-Krieges. Wie die Ukraine und Georgien fühlen sich offenbar auch die baltischen Staaten durch die Stärke der NATO zu einem aggressiveren Verhalten gegenüber Russland und der russischen Minderheit im eigenen Land ermutigt.
Im Falle eines Krieges um das Baltikum, welche Ursache er auch immer hat, würden die künftig in Deutschland stationierten Mittelstreckenraketen vermutlich primär gegen russische Luftverteidigungssysteme sowie Kommando- und Kontrolleinrichtungen eingesetzt werden. Während heute auf eine militärische Konfrontation (ob gewollt oder ungewollt) eine allmähliche Eskalation der Kampfhandlungen folgt, die Krisengespräche und Deeskalation ermöglicht, wird ein Krieg mit Russland künftig praktisch sofort zu intensiven US-amerikanischen Luft- und Raketenangriffen u.a. mit den in Deutschland zu stationierenden US-Mittelstreckenraketen auf wichtige russische Militäreinrichtungen führen, die auf eine rasche Schwächung der russischen Kampfkraft zielen. Die Russen werden, soweit sie dazu in der Lage sind, versuchen, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen und selbst ähnliche Operationen durchzuführen. Im Idealfall führen solche Kämpfe aus Sicht der NATO-Strategen zu einem schnellen Sieg und einem Rückzug Russlands. Dieser Idealfall könnte sich jedoch als Wunschdenken erweisen. Vielmehr könnte Moskau angesichts der eigenen konventionellen Unterlegenheit gegenüber der NATO im Kriegsfall rasch zu einer nuklearen Eskalation übergehen. Um genau diese Gefahr zu reduzieren, wurde seinerzeit der INF-Vertrag geschlossen, den die USA 2019 aufgekündigt haben.
Im Kalten Krieg war es die Strategie der NATO, eine konventionell überlegene Rote Armee durch den Ersteinsatz taktischer Nuklearwaffen auf deutschem Boden zu stoppen. Heute ist Russland der konventionell unterlegene Antagonist und behält sich den Ersteinsatz von Nuklearwaffen für den Fall einer als existenziell empfundenen Bedrohung vor. Dass eine direkte militärische Konfrontation mit der NATO, einem Militärbündnis, das mehr als die Hälfte aller weltweiten Militärausgaben auf sich vereint, aus russischer Sicht eine solche existenzielle Bedrohung darstellt, darf als wahrscheinlich angenommen werden. Das logische Ziel eines russischen nuklearen Gegenschlags wäre dann die NATO-Drehscheibe Deutschland, von wo aus Raketenangriffe ins russische Hinterland geführt werden. Raketenangriffe, die die USA ohne Rücksprache mit der Bundesregierung, unter Umständen sogar gegen deren ausdrücklichen Willen, von deutschem Boden aus durchgeführt haben könnten. Ein Konflikt im Baltikum, der von Deutschland eigentlich weit entfernt ist und keine unmittelbare Bedrohung für Deutschland darstellt, kann so in eine nukleare Katastrophe münden.
Angesichts der Tatsache, dass die in Deutschland zu stationierenden Raketen weit ins russische Hinterland reichen und dort strategische Ziele einschließlich der nuklearen Fähigkeiten Russlands erreichen können, wird Deutschland im Konfliktfall, sogar noch bevor diese Raketen gegen Russland eingesetzt werden, zu einem zentralen und vorrangigen Ziel für präemptive russische Raketenangriffe.
Im Falle eines russischen Angriffs auf die baltischen Staaten wäre Deutschland zwar nach Artikel 5 des NATO-Vertrags, wonach ein Angriff auf einen Mitgliedstaat als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gilt, zum Beistand verpflichtet. Art und Umfang dieses Beistands regelt Artikel 5 jedoch nicht, sondern bleibt den Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihrer jeweiligen Verfassung und der konkreten Lage überlassen. Mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen gibt Deutschland dieses Recht teilweise an die USA ab, die damit über die Reaktion von deutschem Boden aus entscheiden können. Mit den Mittelstreckenraketen geht also ein weiterer Souveränitätsverzicht einher, und zwar in einer Frage von Leben und Tod. Die Bundesregierung legt das Schicksal des eigenen Landes und der eigenen Bevölkerung bedingungslos in die Hände Washingtons.
Die Interessenlage und Strategie Deutschlands und der USA könnten sich aber bei einem Krieg um das Baltikum unter Umständen erheblich unterscheiden. Deutschland könnte (eine vernunftbegabte Regierung vorausgesetzt) um Deeskalation bemüht sein und versuchen, eine Ausweitung des Krieges zu vermeiden. Die USA hingegen, die einen Ozean entfernt sind, könnten dagegen wie im Ukraine-Krieg das Ziel verfolgen Russland eine strategische Niederlage beizubringen, die zu einem Regimewechsel führt. Mit den in Deutschland stationierten Mittelstreckenraketen verfügen die USA über zusätzliche offensive Fähigkeiten, um solche Ziele zu erreichen. Die damit verbundenen Risiken trägt in erster Linie Deutschland.
Es wäre naiv anzunehmen, dass die USA dabei die Interessen Deutschlands so berücksichtigen würden, als wären es ihre eigenen. Im Konflikt um die Ukraine haben die USA stets darauf gesetzt Russland zu schwächen und einen Kompromiss, der vor allem eine dauerhafte Neutralität der Ukraine erfordert hätte, vor Ausbruch des Krieges Ende 2021 und kurz nach Kriegsbeginn 2022 abgelehnt. Der Krieg wurde als ein für die USA guter Deal gesehen. Nur ein Beispiel unter zahllosen: General a.D. Keith Kellogg, ehemaliger Berater von Mike Pence, sagte, es sei der „Gipfel der Professionalität“, die Ukraine für den Kampf gegen Russland zu nutzen, weil damit „ein strategischer Gegner vom Tisch ist“, ohne „irgendwelche US-Truppen einzusetzen“. Und dann „können wir uns“ auf „unseren Hauptgegner, nämlich China, konzentrieren“. Todesopfer in der Ukraine spielen in dieser strategischen Betrachtung keine große Rolle, tote Russen sind Teil des Ziels. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass die Strategen in Washington Deutschland und seine Bevölkerung nicht ebenso für ihre geostrategischen Ziele „benutzen“, d. h. opfern würden.
Krieg aus Versehen: Pech für Deutschland
Landgestützte Tomahawk-Marschflugkörper, die im Unterschallbereich fliegen, wären wegen ihrer bodennahen Flugbahn von russischen Radaranlagen erst spät zu erfassen. Auch der Einsatz von hypersonischen Dark Eagle-Raketen würde in Moskau wenig Zeit für die Lagefeststellung und Entscheidungsfindung lassen. Sie können ihre Ziele in wenigen Minuten erreichen. Startvorbereitungen können verdeckt und kurzfristig erfolgen, ohne dass größere operative Bewegungen wie vor dem Einsatz zu Wasser oder in der Luft erkennbar sind. Sie eignen sich daher für Überraschungsangriffe. Das russische Militär wird dadurch in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft gehalten.
Im Alarmfall muss Russland innerhalb weniger Minuten entscheiden, ob es die eigenen Raketen, die nicht zuletzt auf Deutschland gerichtet sein werden, einsetzt oder durch die gemeldeten anfliegenden Raketen verliert. Es steht vor dem Dilemma „use or loose“. Fehlalarme gab es im Kalten Krieg. Dass es nicht zur Katastrophe kam, war dem Glück zu verdanken, dass zufällig die richtige Person zur richtigen Zeit die Verantwortung trug. Am 26. September 1983 zum Beispiel meldete das sowjetische Frühwarnradar den Start von Interkontinentalraketen von Stützpunkten in den USA. Stanislaw Petrow, ein Offizier der sowjetischen Luftverteidigung, der in der Kommandozentrale des Frühwarnsystems Dienst tat, hielt diese Warnungen für einen Fehlalarm und entschied, auf bestätigende Hinweise zu warten, die jedoch ausblieben, anstatt sofort einen möglichen nuklearen Vergeltungsschlag einzuleiten.
Fehlalarme können auch in Zukunft auftreten. Wenn sich der dann unter noch größerem Zeitdruck stehende Offizier in Russland anders entscheidet als Stanislaw Petrow 1983, dann hat Deutschland Pech gehabt und mit der Entscheidung zur Stationierung von Mittelstreckenraketen eine nicht nur törichte, sondern auch tödliche Entscheidung getroffen.