Der Weg zur Hölle ist mit guter Baerbockscher Gesinnung gepflastert, zum Frieden führen nur Verhandlungen und schmutzige Kompromisse.
Deutschland sollte die vielgelobte Einigkeit mit den USA aufkündigen
In der Ukraine sterben täglich Menschen. Überwiegend wahrscheinlich Soldaten, aber auch Frauen und Kinder. Sie werden von Artilleriegranaten in Stücke gerissen oder von Gewehrkugeln durchlöchert. Städte werden zertrümmert und lebenswichtige Infrastruktur wird zerstört. Schuld an dem Elend sind, na klar, die Russen im Allgemeinen und Wladimir Putin im Besonderen. Ob auch der Westen durch die NATO-Osterweiterung sowie die freundliche Unterstützung der ukrainischen Opposition beim Regierungswechsel in der Ukraine im Jahr 2014 eine Mitverantwortung trägt, weil Russland hierdurch möglicherweise provoziert wurde, kann an dieser Stelle dahingestellt sein.[1] Die aktuell relevante Frage ist offensichtlich wie der Westen, wie Europa, wie Deutschland auf den von Russland vor mehr als sieben Monaten begonnen Krieg reagieren sollte.
In der Antwort auf diese Frage von Leben und Tod ist sich die deutsche Politik und Medienlandschaft wie üblich recht einig. Deutschland muss im Gleichschritt mit den USA und der EU die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg mit Waffenlieferungen unterstützen und Russland durch massive Wirtschaftssanktionen schwächen oder auch bestrafen. Sowohl die Waffenlieferungen an die Ukraine als auch den Wirtschaftskrieg gegen Russland beabsichtigt die Regierung, wenn erforderlich, jahrelang fortzusetzen, selbst unter Inkaufnahme schwerwiegender wirtschaftlicher Nachteile. Das geschieht quasi freiwillig, denn eine explizite Bündnisverpflichtung gegenüber der Ukraine gibt es nicht. Begründet wird dies von deutschen Politikern und Medienvertretern regelmäßig mit der gewagten These, dass in der Ukraine auch die Freiheit Deutschlands verteidigt werde. Eine Aussage, bei der zumindest Skepsis angezeigt erscheint, begründete doch der seinerzeitige Verteidigungsminister Peter Struck den Bundeswehreinsatz in Afghanistan auch mit der inzwischen als Unsinn offensichtlichen Behauptung die Freiheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt.
In Verhandlungen mit Russland sieht Außenministerin Annalena Baerbock keinen Sinn. Der Westen habe, so die oberste deutsche Diplomatin, vor Beginn des Krieges „alles dafür getan“, um diesen Krieg zu verhindern, Waffenlieferungen seien, so glaubt Baerbock, alternativlos.[2] Sie ist mit dem Anspruch angetreten werteorientierte, feministische Außenpolitik zu betreiben. Werteorientierung bedeutet für Baerbock, dass ihre Handlungen zu ihrer Gesinnung passen müssen. Baerbock hat in Putins Russland so etwas wie das neue Reich des Bösen erkannt. Dieses Reich des Bösen mit Waffenlieferungen, Sanktionen und starken Worten zu bekämpfen ist für Baerbock und ihre zahlreichen Gesinnungsgenossen ein eigenständiger Wert. Es handelt sich um eine Art Selbstbefriedigung für die edle Gesinnung. Nach Vorstellung von Baerbock müssen die Russen bis zum letzten Mann vom Territorium der Ukraine einschließlich der Krim vertrieben werden. Dieses Ziel formulierte der ukrainische Präsident Selensky am ukrainischen Unabhängigkeitstag und Außenministerin Baerbock hat sich hinter den Anspruch auf Rückeroberung der Krim gestellt, sie sagte am 25.08: "Auch die Krim gehört zur Ukraine. Die völkerrechtswidrige Annexion von 2014 hat die Welt nie anerkannt." [3] Damit aber nicht genug: Ein weiteres Ziel besteht ausdrücklich darin Russland zu schwächen. US Verteidigungsminister Austin sagte bereits im April 2022: “We want to see Russia weakened to the degree that it can’t do the kinds of things that it has done in invading Ukraine.” Annalena Baerbock hatte wohl brav zugehört und formulierte ganz ähnlich, sie wolle, das Russland „jahrelang nicht mehr auf die Beine kommt“. Bei Ankündigung des ersten Sanktionspakets gegen Russland hatte sie bereits verkündet dieses werde Russland „ruinieren“.
Die Orientierung von Außenpolitik an der eigenen Gesinnung hat, neben der durch sie ermöglichten, moralischen Selbstbeweihräucherung, für ihre Protagonisten einen gravierenden Vorteil. Auf die tatsächlichen Folgen ihrer Politik in der realen Welt kommt es nicht an, sie müssen sich hierüber keine Gedanken machen und keine Verantwortung dafür übernehmen. Entscheidend ist allein die gute Absicht. Die amerikanischen Neocons mit Präsident George W. Bush an der Spitze haben den Einmarsch im Irak werteorientiert damit begründet Saddam die Massenvernichtungswaffen abnehmen zu wollen, die er nicht hatte, und das Land in eine liberale Demokratie nach westlichem Vorbild zu verwandeln, die es nicht sein wollte oder angesichts seiner tribalen Strukturen nicht sein konnte. Für das auch zwei Jahrzehnte später andauernde Chaos im Irak, mit je nach Schätzung 100.000 oder gar mehr als 1 Millionen Todesopfern, ist keiner der Protagonisten in den USA oder Großbritannien zur Verantwortung gezogen worden. Sie hatten ja gute Absichten.
Die Erfolge der tapferen ukrainischen Armee, die zumindest Teile des von den russischen Okkupanten eingenommenen Territoriums zurückerobert hat, haben den Befürworter von immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine und immer härteren Sanktionen gegen Russland Rückenwind verschafft. Moralisierende Lautsprecher mit erkennbar begrenzten kognitiven Fähigkeiten wie die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie Agnes Strack-Zimmermann oder der Grüne Anton Hofreiter, fordern die Lieferung von mehr Waffen inklusive von Kampfpanzern. So würde die Ukraine in die Lage versetzt, ihren Vormarsch fortzusetzen und die russischen Truppen zu vertreiben. Die Mainstreammedien reichen diesen Gestalten ihr Megafon.
Nüchtern betrachtet hat sich die Lage im Ukraine-Krieg seit dem Beginn der Gegenoffensive aber nicht nur verbessert, denn der ukrainische Erfolg auf dem Schlachtfeld hat, wie nicht anders zu erwarten war, die nächste Eskalationsstufe gezündet. Putin hat eine Teilmobilmachung verkündet, die 300.000 Reservisten umfassen soll. In den Oblasten Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson wurden Referenden über einen Beitritt zu Russland abgehalten. Das Ergebnis entsprach wenig überraschend dem Wunsch des Kremlherrn, ob es den tatsächlichen Wünschen der dortigen Bevölkerung widerspricht, wie im Westen selbstverständlich behauptet wird, ist aber unklar. Die genannten Oblaste sind jetzt aus der Perspektive Russlands, Teil des eigenen Staatsgebiets. Damit gilt auch die russische Nukleardoktrin für diese Gebiete. Diese Doktrin sieht vor, dass ein Erstschlag mit einer taktischen Atomwaffe bei Gefährdung des eigenen Landes möglich ist. Faktisch ist die Lage trotz der militärischen Erfolge der Ukraine für das geschundene Land, für Europa und für den Rest der Welt damit noch brenzliger geworden.
Es ist höchste Zeit für den Westen und insbesondere für Europa zu erkennen, dass die Ziele, die mit Waffenlieferungen und Wirtschaftskrieg angestrebt werden, unrealistisch sind. In dieser Utopie setzt sich die Ukraine militärisch gegen die Invasoren durchsetzt. Russland nimmt die Niederlage achselzuckend hin und installiert idealerweise an der Staatsspitze einen neuen, dem Westen natürlich freundlicher gesonnenen Präsidenten. Die Ukraine, die bis kurz vor Kriegsbeginn noch als politisch zerrissener, korrupter Oligarchenstaat galt[4], wird zu einer Vorzeigedemokratie mit Mitgliedschaft in EU und NATO.
Realistisch ist dagegen, dass Russland auf weitere von Waffenlieferungen begünstigte militärische Erfolge der Ukraine im besten Fall mit einer noch mörderischeren, noch zerstörerischen konventionellen Kriegführung reagieren wird. Der Krieg wird jahrelang andauern, die Toten werden nicht zu zehntausenden, sondern zu Millionen zählen, noch mehr Menschen werden vor den Kriegshandlungen fliehen, große Teile des Landes werden in Schutt und Asche liegen und am Ende, wenn beide Seiten ausgeblutet und erschöpft sind, wird Russland immer noch Teile der Ukraine besetzt halten. Im schlechteren Fall, sieht ein in die Ecke gedrängter Putin keine andere Option als nukleare Gefechtsfeldwaffen in der Ukraine einzusetzen, um den Krieg doch noch zu seinen Gunsten zu entscheiden. Auch dieses Albtraumszenario ist aber noch nicht der schlimmstmögliche Fortgang der Ereignisse. Statt auf oder in der Nähe von eignem bzw. beanspruchtem Territorium Nuklearwaffen einzusetzen und dieses so zu verseuchen, könnte Putin auch als letzte Warnung an die USA Westeuropa attackieren. Denkbar wäre einen Atomsprengkopf hoch über Europa detonieren zu lassen. Hierdurch würde ein elektromagnetischer Impuls ausgelöst, der Stromversorgung, Kommunikation, Finanzsystem, Transport etc. lahmlegt.[5] Ein plausibles Ziel für einen derartigen Angriff wäre Deutschland, weil es weit genug weg ist von Russland und selbst nicht über Atomwaffen verfügt, um zurückzuschlagen. Wie würden die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien hierauf reagieren? Wahrscheinlich vergleichsweise zurückhaltend, denn sie würden sicher nicht riskieren wollen, dass ihre eigenen Städte zum nächsten Ziel werden.
Bei realistischer Betrachtung ist ein Kompromissfrieden mit erheblichen Zugeständnissen an Russland besser als eine Fortsetzung der Kampfhandlungen mit dem damit verbundenen Eskalationsrisiko. Das gälte selbst dann, wenn in einem solchen Kompromissfrieden nicht nur die Krim, sondern auch Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson Russland zugeschlagen würden. Für die Mehrheit der Menschen in den betroffenen Regionen ist die Frage Krieg oder Frieden sehr wahrscheinlich wichtiger als die Frage der Zugehörigkeit zu Russland oder der Ukraine. Für diejenigen, die unter keinen Umständen unter russischer Herrschaft leben wollen, bliebe immerhin die Möglichkeit der Flucht in den Westen der Ukraine, immer noch besser, als von Artilleriegranaten zerfetzt oder Gewehrkugeln durchlöchert zu werden. Im Übrigen könnte der Westen in Friedensverhandlungen durchsetzen, dass internationale Beobachter die Einhaltung der Menschenrechte in den annektierten Gebieten überwachen. Zugeständnisse an den Aggressor Russland sind natürlich unbefriedigend, aber Frieden und damit ein Ende von Tod und Zerstörung ist wahrscheinlich nur mit einem schmutzigen Kompromiss zu haben. Der bislang vom Westen einschließlich Deutschlands eingeschlagene Weg dagegen, ist zwar mit guter Baerbockscher Gesinnung edel gepflastert, führt aber wahrscheinlich für Millionen Menschen geradewegs in die Hölle.
Putin hat in der Rede, in der er die Annexion von Donezk, Lugansk, Saporischschja und Cherson verkündete, auch einen Waffenstillstand angeboten und erklärt, zu Verhandlungen bereit zu sein. Nicht ohne allerdings im nächsten Atemzug zu betonen, dass die annektierten Oblaste keine Verhandlungsmasse seien. Präsident Selensky hat Verhandlungen prompt abgelehnt, solange Putin in Russland an der Macht ist. Er hat hierfür sehr wahrscheinlich die Rückendeckung der USA.
Wenn dem so ist, sollte Deutschland, idealerweise zusammen mit anderen europäischen Staaten, zur Not aber auch im Alleingang, die vielgelobte Einigkeit mit den USA aufkündigen und der Ukraine die Unterstützung entziehen, sofern diese nicht zu Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und Zugeständnissen bereit ist. Europa droht durch den Ukraine-Krieg der wirtschaftliche Niedergang und die Verarmung, Europa ist auch wesentlich stärker von einer nuklearen Eskalation gefährdet als die durch zwei Ozeane geschützte USA. Zudem war die US-Außenpolitik in den letzten Jahrzehnten unbestreitbar von Hybris, Lügen und katastrophalen Fehleinschätzungen gekennzeichnet, fast gleichgültig, ob Republikaner oder Demokraten den Präsidenten stellten. Den Vorstellungen des außenpolitischen Establishments der USA zu folgen ist also nicht unbedingt ein Erfolgsrezept. Dass es für Deutschland möglich ist, eine eigenständige Position zu beziehen, hat anlässlich des zweiten Irak-Krieges der heute vielgescholtene seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder bewiesen. Es hat sich gelohnt! Bedauerlicherweise findet man den Mut und die Vernunft zu einer solchen eigenständigen politischen Position für Deutschland heute nur noch bei der AfD und der Linken.
[1] Wollten die USA den russischen Krieg gegen die Ukraine? (substack.com)
[2] https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-Krieg-Baerbock-glaubt-nicht-mehr-an-friedliche-Loesung-Waffenlieferungen-alternativlos-article23545680.html
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-baerbock-unterstuetzung-hilfe-krieg-100.html
[4] Ukraine unter Präsident Selenskij - Die Enttäuschung - Meinung - SZ.de (sueddeutsche.de)
[5] Putin’s Nuclear Threats Are Reaching Beyond Ukraine | The National Interest