Tödlicher Mangel an "Realismus"
John Mearsheimer widerspricht dem westlichen Narrativ zum Ukraine-Krieg
John J. Mearsheimer, ist seit 1982 R. Wendell Harrison Distinguished Service Professor of Political Science an der University of Chicago und führender Vertreter der „realistischen Schule“ der Theorie internationaler Beziehungen. Damit ist er in den USA ebenso wie in Deutschland ein Außenseiter. Das war schon so im Jahr 2002, im Vorfeld des zweiten Irakkriegs. Gemeinsam mit Stephen Walt (Harvard) und einer kleinen Schar weiterer Akademiker wandte sich Mearsheimer seinerzeit publikumswirksam mit einer Anzeige in der New York Times gegen einen Angriff auf Saddams Irak, mit der aus heutiger Sicht fast seherisch anmutenden Argumentation: „Selbst wenn wir den Krieg leicht gewinnen sollten, haben wir keine plausible Exit Strategie. Der Irak ist ein tief gespaltenes Land, welches die USA für viele Jahre besetzen und regieren müssten, um ein funktionierendes Staatswesen zu schaffen.“ Die neokonservative Vision einer Transformation von Staaten wie Irak und Afghanistan in Demokratien nach westlichem Vorbild lehnte Mearsheimer ab, weil er dies weder für erreichbar noch sicherheitspolitisch hinreichend relevant hielt.
Mearsheimers „Realismus“ fällt keine moralischen Urteile, sondern versucht das Handeln von Staaten zu erklären. Internationale Beziehungen sind hiernach zum einen gekennzeichnet von Anarchie, weil es keine zentrale Autorität gibt, die Recht durchsetzen kann. Zum anderen sind Staaten, bei Mearsheimer geht es insbesondere um Großmächte, stets mit Unsicherheit über die Absichten ihres Gegenübers konfrontiert. Ihr oberstes Ziel ist es das eigene Überleben sicherzustellen. Das führt in ein Sicherheitsdilemma: Es besteht ein Anreiz Anstrengungen zur Erhöhung der eigenen Sicherheit zu unternehmen, die aber von der Gegenseite als Bedrohung von deren Sicherheit interpretiert werden können. Hieraus kann eine Spirale entstehen, die die Sicherheit beider Seiten mindert und unter Umständen in einen Krieg münden kann. Schon an dieser Stelle mag man an den Ukraine-Krieg und seine Vorgeschichte denken.
Zum Ukraine-Konflikt hat Mearsheimer im Jahr 2015, also kurz nach dem Machtwechsel in Kiew, in einem Vortrag unter dem Titel „Why is Ukraine the West’s Fault“ unter anderem gesagt: „Der Westen führt die Ukraine auf den Pfad der Versuchung, das Endergebnis wird eine Ukraine in Ruinen sein“. Es sieht so aus, dass er auch in diesem Fall Recht behalten wird. Das Video ist auf Youtube verfügbar, es hat dort für einen akademischen Vortrag sagenhafte 28 Millionen Aufrufe. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich Mearsheimer in zahlreichen Artikeln, Interviews und Diskussionen zum Krieg geäußert. Er widerspricht, der im Westen vorherrschenden Erzählung wonach Putins Krieg gegen die Ukraine imperialistisch motiviert ist. Das mag angesichts der mörderischen russischen Invasion auf den ersten Blick kontraintuitiv anmuten, es lohnt sich aber Mearsheimer genau zuzuhören. Im Fall des Irak-Kriegs hätte eine Politik, die seinem Rat gefolgt wäre, hunderttausende Menschenleben retten und eine ganze Region vor dem Chaos bewahren können.
Das herrschende Narrativ: Putin ist ein Imperialist, der nur militärisch gestoppt werden kann
Das von westlichen Politikern und Medien ganz überwiegend vertretene Narrativ, von Putin als Imperialisten, beschreibt der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt in einer Debatte mit Mearsheimer („Holberg Debate 2022“): Hiernach befindet sich Europa im Jahr 2022 in einer mit dem Jahr 1939 vergleichbaren Situation, als Hitler Polen überfiel. In beiden Fällen handelte es sich, so Bildt, um die persönliche Entscheidung eines Diktators. Hitler wollte die eigenständige Existenz eines polnischen Nationalstaats beenden, Putin habe heute das Ziel, der Unabhängigkeit der Ukraine ein Ende zu setzen. Hitler war mit der Eroberung von Polen nicht zufrieden, wie der Ukraine-Krieg enden- und wie es danach weitergehen werde, ist, so Bildt, eine offene Frage. Er rechnet damit, dass Putin den Krieg so lange eskaliert, wie ihm dafür Mittel zur Verfügung stehen, die Ukraine aber weiter für ihre Freiheit kämpfen wird bis Putin letztendlich kollabiert. Frieden in Europa könne nicht wiederhergestellt werden, bevor die russischen Invasoren nicht aus der Ukraine vertrieben worden seien und Russland seine imperialen Ambitionen aufgebe. Verhandlungen mit Russland lehnt Bildt gegenwärtig ab. Grenzen dürften nicht durch einen verbrecherischen Krieg verschoben werden, sonst werde die Büchse der Pandora geöffnet.
John Mearsheimer: Russland sieht eine Ukraine in der NATO als existentielle Sicherheitsbedrohung
Mearsheimer erklärt dieses von Carl Bildt und den meisten anderen westlichen Politikern und Medien vertretene Narrativ von Putin als Imperialisten, der danach trachte, das sowjetische Imperium widerherzustellen, rundheraus für falsch. Es gibt, so Mearsheimer, keinerlei Evidenz dafür, dass Putin die Eroberung der Ukraine und deren Integration in ein größeres Russland für erstrebenswert und erreichbar halte. Ebenso gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass Putin einen noch größeren Eroberungsfeldzug plane. Schließlich verfüge Putins Russland gegenwärtig nicht annähernd über die Fähigkeiten für eine Eroberung der Ukraine. Die russische Invasion begann mit nur 190.000 Soldaten. Mearsheimer argumentiert, dass es gänzlich unmöglich sei, mit einer derart kleinen Streitmacht ein Land wie die Ukraine zu erobern. Er unterstreicht das Argument mit dem Hinweis darauf, dass die Wehrmacht beim deutschen Angriff auf Polen mit 1,5 Millionen Mann angetreten ist. Putins Ziel sei es also nicht gewesen, die Ukraine zu erobern und Russland einzuverleiben. Er wollte vielmehr die Strategie der USA durchkreuzen die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze aufzubauen. Russland sehe die fortschreitende Integration der Ukraine in das westliche Militärbündnis NATO als existentielle Bedrohung. Ob man das im Westen für plausibel halte oder nicht spiele keine Rolle, es komme hier allein auf die Perspektive Russlands an.
Dafür das Russland eine Ukraine in der NATO als eine existentielle Bedrohung ansieht, gibt es, anders als für imperiale russische Ambitionen starke Evidenz, argumentiert Mearsheimer. Russland hat der NATO-Osterweiterung von Beginn an ablehnend gegenübergestanden. Weil Russland schwach war, habe der Westen darauf keine Rücksicht nehmen müssen und eine Erweiterungsrunde nach der anderen durchgezogen. Putin hat sich in seiner berühmten Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 darüber nachdrücklich beklagt. Als die NATO auf dem Gipfel in Bukarest im April 2008 auch noch die Absicht bekundet habe Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen, haben die Russen unmissverständlich klargemacht, dass dies für sie vollkommen unakzeptabel ist. Der damalige US-Botschafter in Moskau, William Burns, der heute CIA-Chef in der Biden Administration ist, schrieb unmittelbar vor dem Gipfel an die damalige US-Außenministerin Condoleeza Rice: „Der Beitritt der Ukraine zur NATO ist für die russische Elite, nicht nur für Putin, die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunkelsten Winkeln des Kreml bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.“ … „Das Russland von heute wird reagieren, die russisch-ukrainischen Beziehungen werden tief einfrieren. Das wird einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ost-Ukraine schaffen.“ Deutschland und Frankreich in Gestalt von Merkel und Sarkozy verhinderten mit ihrem Veto auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 zwar den kurzfristigen Beitritt der Ukraine und Georgiens. US-Präsident Bush setzte aber eine Zusage für einen Beitritt zu einem späteren Zeitpunkt durch: „Wir haben uns gestern darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden“, hieß es lapidar in der Gipfelerklärung zur Ukraine und zu Georgien. Die USA und die NATO haben seither die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine ausgebaut und wiederholt erklärt, dass die Absicht bestehe die Ukraine in die NATO aufzunehmen, zuletzt im Jahr 2021. Die Annexion der Krim im Jahr 2014, den seitdem schwelenden Konflikt im Osten der Ukraine und den militärischen Angriff am 24. Februar 2022 sieht Mearsheimer als Reaktion auf diese aus Russlands Sicht existenzielle Bedrohung. Die Darstellung Putins als Imperialist und neuer Hitler hat der Westen nach Einschätzung Mearsheimers ab 2014 erfunden, um nicht selbst Mitverantwortung für die Entstehung des Konflikts übernehmen zu müssen.
Die Fehler des Westens
Mearsheimer argumentiert, dass der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen mehrfach die Gelegenheit hatte, die Eskalation des Konflikts zu stoppen. Im Jahr 2008 hätte die NATO das Begehren der Ukraine (und von Georgien) nach einem NATO-Beitritt explizit ablehnen und auf einem neutralen Status bestehen können. Nach Einschätzung von Mearsheimer befände sich die Ukraine dann heute nicht im Krieg mit Russland und hätte weiterhin die Kontrolle über ihr gesamtes Territorium inklusive der Krim. Eine weitere Gelegenheit aus der Eskalationsspirale auszubrechen, gab es im Jahr 2014 als Putin nach dem pro-westlichen Machtwechsel in Kiew die Prognose von Burns wahr werden ließ und die Krim annektierte. Die letzte Gelegenheit sich zurückzuziehen und einen Krieg zu verhindern hatten die USA im Dezember 2021, als Putin ultimativ forderte den Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung zu tragen und als Verhandlungsgrundlage einen Vertragsentwurf an die USA und die NATO (nicht an die Ukraine) schickte.
In diesem Vertragsentwurf wird gefordert, dass das westliche Militärbündnis die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken nicht aufnehme, Waffen aus der Region abziehe und Manöver dort beende. Darüber hinaus wurden ein Verzicht auf Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen in Gebieten, von denen aus sie das Hoheitsgebiet der anderen Partei angreifen könnten, sowie ein Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes inklusive der Rückführung entsprechender Waffensysteme und Zerstörung der entsprechenden Infrastruktur in Drittstaaten gefordert. Die Forderungen unterstützen Mearsheimers These, dass Putins Russland sich durch das Vorrücken der NATO an die eigenen Grenzen bedroht wähnt. Von den USA wurden die russischen Forderungen abgelehnt. Außenminister Blinken erklärte im Januar 2022, dass die „Open Door Policy“ der NATO nicht verhandelbar sei.
Eine vorläufig letzte Chance den Krieg zu stoppen gab es wohl im März 2022, also kurz nach Kriegsbeginn. In Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland soll Selenskij Neutralität angeboten und Putin dem zugestimmt haben. Selenskij soll dann aber auf Druck der USA und Großbritanniens einen Rückzieher gemacht haben. In den Augen von Mearsheimer haben die USA bei jeder Wendung des Konflikts um die Ukraine den Einsatz und das Risiko erhöht, statt auf Deeskalation und Kompromiss zu setzen.
Wie groß ist das Risiko einer Eskalation bis hin zu einer nuklearen Auseinandersetzung?
Weil Russland eine Integration der Ukraine in das westliche Militärbündnis als existenzielle Sicherheitsbedrohung ansieht, muss es den Krieg unter allen Umständen gewinnen, argumentiert Mearsheimer. Umgekehrt strebt der Westen, unter der Führung der USA ebenso wie die Ukraine danach die russischen Invasoren vollständig aus den völkerrechtlich zur Ukraine gehörigen Territorien inklusive der Krim zu vertreiben. Mehr noch, die russische Wirtschaft soll durch massive Wirtschaftssanktionen nachhaltig beschädigt werden, was, so die Hoffnung im Westen, zusammen mit einer militärischen Niederlage Russlands, einen Regime Change in Moskau herbeiführen kann. Idealerweise gelingt es sogar Putin vor einem Kriegsverbrechertribunal zu stellen und Russland zu Reparationen für die in der Ukraine angerichteten Zerstörungen heranzuziehen. Wenn beide Seiten aber auf einen totalen Sieg setzen, gibt es keine diplomatische Lösung für den Konflikt. Sollte es den ukrainischen Truppen tatsächlich mit Hilfe ihrer westlichen Unterstützer gelingen die russischen Truppen zurückzudrängen, so bestünde die Gefahr, dass Russland in seiner Verzweiflung, zur letzten Option greift und Nuklearwaffen einsetzt. Daraus ergibt sich nach Einschätzung Mearsheimers ein perverses Paradox: Je erfolgreicher das ukrainische Militär gegen die Invasoren vorgeht, desto wahrscheinlicher ist eine nukleare Eskalation. Man darf, so Mearsheimer, eine Atommacht nicht in die Ecke drängen. Wenn Russland, bzw. das russische Regime, sein Überleben in Gefahr sieht, dann besteht ein erhebliches Risiko, dass Atomwaffen zum Einsatz kommen. In einer solchen Situation sei es oberstes Gebot zu deeskalieren, wie es John F. Kennedy in der Kuba-Krise 1962 getan habe. Sollte ein an den Rand der Niederlage gebrachtes Russland tatsächlich Atomwaffen in der Ukraine einsetzen, so sei die rationale Reaktion der USA ein sofortiger Rückzug, andernfalls drohe eine nukleare Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland. Angesichts der Moralisierung des Konflikts sei eine rationale Reaktion aber keineswegs gewährleistet und ein nukleares Armageddon nicht ausgeschlossen.
Welche realistischen Optionen gibt es jetzt noch?
Der Ausblick von John Mearsheimer auf den weiteren Verlauf des Konflikts ist düster. Russland wähnt sich in einem existenziellen Kampf mit dem Westen, hat Teile der Ukraine annektiert und wird nicht bereit sein dieses Territorium wieder aufzugeben. Die USA wird die Ukraine umgekehrt nicht unter Druck setzen einen derartigen Kompromiss mit erheblichen Gebietsverlusten zu akzeptieren, weil es sich kurze Zeit nach dem demütigenden Abzug aus Afghanistan um eine weitere Niederlage für die USA handeln würde. Die Ukraine mag zwar zur von Russland geforderten Neutralität nominell bereit sein, verlangt aber Sicherheitsgarantien von den USA, was einer NATO-Mitgliedschaft gleichkäme und für Russland inakzeptabel wäre. Russland strebt daher nach Einschätzung von Mearsheimer jetzt an, aus der Ukraine einen disfunktionalen Rumpfstaat zu machen, hat deshalb Teile des Landes annektiert und zerstört die Infrastruktur der übrigen Landesteile.
Fazit: Was folgt aus Mearsheimers Analyse
Es ist Russland, das einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen hat. Es sind Russlands Soldaten, die der Ukraine Tod und Zerstörung bringen und die dort selbst sterben. Aber mit realistischer Politik statt Arroganz, Dummheit und heuchlerischer Moralisierung des Konflikts im Westen hätte der Krieg wahrscheinlich verhindert oder im März/April 2022 schnell beendet werden können. Möglicherweise ist es hierfür jetzt zu spät, weil das für eine wie auch immer geartete diplomatische Lösung erforderliche Vertrauen auf beiden Seiten vollständig verloren gegangen ist. Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, sollte Diplomatie aber zumindest versucht werden.
Bei realistischer Betrachtung ist ein Kompromissfrieden selbst mit erheblichen Zugeständnissen an Russland immer noch besser als eine Fortsetzung der Kampfhandlungen mit dem damit verbundenen Eskalationsrisiko. Zugeständnisse an den Aggressor Russland sind unbefriedigend, aber Frieden und damit ein Ende von Tod und Zerstörung ist wahrscheinlich nur mit einem schmutzigen Kompromiss zu haben. Deutschland sollte sich, idealerweise im Bund mit Frankreich, von der Strategie der Hardliner in Washington und Warschau lossagen, die eigenen Waffenlieferungen in die Ukraine stoppen und so einen ersten Schritt zu Deeskalation unternehmen. Jemand muss den Anfang machen, wenn sich die Eskalationsspirale nicht immer weiterdrehen soll. Eine eigenständige Politik zu betreiben, statt blind der US-Strategie zu folgen, kann sich wie im Fall des zweiten Irakkriegs auszahlen. Da Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen die Hauptlast der Sanktionen trägt und bei einer Eskalation des Krieges einem erheblich größeren Risiko ausgesetzt ist als die USA, ist eine eigenständige Politik mehr noch als im Jahr 2003 dringend angezeigt. Die Fortsetzung der in Deutschland von hochmoralischen aber entweder verantwortungslosen oder strunzdummen Politikern wie Annalena Baerbock, Anton Hofreiter oder Marie Agnes Strack-Zimmermann lautstark vertretenen Politik ist russisch Roulette mit einer unbekannten Zahl von Kugeln in einem Revolver mit unbekannt großer Trommel.